Ich bin da noch mal hin
sie hin?«, frage ich.
»Keine Ahnung«, meint sie und fotografiert mich. »Sie ist irgendwo draußen.«
»Entschuldigen Sie«, höre ich jemanden sagen, als die Touristinnen ihre Besichtigung fortsetzen. »Sind Sie die Frau aus dem deutschen Buch?«
»Ja, das bin ich. Woher wissen Sie das?«
Was ist hier eigentlich los?
»Die Pförtnerin hat mir gesagt, dass Sie hier sind. Ich studiere Journalistik und arbeite für La Voz de Galicia . Diesen Sommer bin ich in O Cebreiro stationiert, ich soll Artikel über den Camino schreiben. Hätten Sie etwas gegen ein Interview?«
»Überhaupt nicht. Wie heißen Sie?«
»Patricia. Patricia Blanco.«
»Hola, Patricia. Ich bin Anne. Anne Butterfield.«
Ganz Journalistin, schreibt sie das bereits nieder, während wir uns auf eine Bank in der Nähe der Jungfrau setzen. Auf Patricias Fragen hin erkläre ich, dass ich auf meiner gegenwärtigen Pilgerreise oft erkannt werde, weil ich in »Ich bin dann mal weg« vorkomme. Allerdings nur von Deutschen!
»Ich bin eine ganz normale Frau, ein Niemand«, erkläre ich. »Ich bin bloß Biologielehrerin.«
Patricias Interesse steigt mir sofort zu Kopf und ich feiere das ungewöhnliche Willkommen in Galicien mit einem Glas Bier in einem Restaurantgarten. Das nächste Zubehör, das ichbrauche, um hier zu Ruhm und Ehren zu kommen, ist eine spanische Fahne aus dem Geschenkladen am kleinen Dorfplatz. Allerdings erlaubt der Camino nicht, dass ich mich lange in oberflächlicher Selbstzufriedenheit aale. Mein aufkeimender Dünkel schwindet schlagartig, als ich mich bei der hospitalera der überlaufenen Herberge nach dem richtigen Weg nach Fonfría erkundige.
»Noch mal zwölf Kilometer heute Nachmittag?«, bemerkt sie und zeichnet dabei den Pfad mit dem Finger nach, der hügelabwärts nach Liñares führt.
»Zwölf? Sind sie sicher? Ich dachte, es sind nur fünf?«, frage ich scharf, als könnte mein Protest die Strecke verkürzen.
»Nein. Von hier nach Fonfría sind es zwölf Kilometer.«
Sie ist die hospitalera , und wir wissen beide, dass sie recht hat. Wie konnte ich mich bloß so irren? Ich will nicht noch zwölf Kilometer wandern. Das ist einfach nicht fair.
Ich stapfe hügelabwärts los. Sobald ich außer Sichtweite bin, lasse ich meine Wut direkt am Camino aus. Ich setze die Sohlen meiner Wanderstiefel hart auf, trete nach dem Unkraut und schlage in das Gras am Wegrand. Wenn Patricia mich jetzt sehen könnte, würde sie ihren Bericht zerreißen und eine neue Überschrift verfassen: »Camino-Koller: Anne wütet gegen Unkraut.« Nach dem Vorbild der Inuit in der Arktis habe ich das Gefühl, das Ausmaß meiner Wut lasse sich in der Entfernung messen, über die sie anhält. Meine Wut ist drei Kilometer lang und damit nicht unerheblich. In Liñares setze ich mich in meinem überhitzten Zustand auf einen Felsblock, trinke etwas Wasser und stelle fest, dass sich meine ungute Stimmung in nichts aufgelöst hat. Genau wie die schöne Landschaft. Ich blicke über die Felder auf die fernen Hügel und frage mich, wann sie sich dorthin verzogen haben. Gemerkt habe ich es nicht.
Was meinen Pilger, wenn sie sagen, sie wollen »sich selbst finden«? Was erwarten sie zu finden? Hoffen sie auf ein zuvor verborgenes und unbeflecktes »Selbst« zu stoßen? Ich habe Neuigkeiten für sie – sie werden das finden, was sie schon sind. Der Camino wird den Lack der Wohlanständigkeit abschürfen und lebenslang angesammelte, fest eingewurzelte Reaktionsmuster ans Licht bringen. Übellaunigkeit, Sanftmut, Entschlossenheit, Wankelmütigkeit, Mut und Feigheit, alle werden sie zum Vorschein kommen, und dann hat man sich selbst »gefunden«. Auf dem Camino sind bewusste Beobachtung und ehrliche Reflexion die Werkzeuge, die wir einsetzen, um zu uns zu kommen. Mystische Mechanismen sind überflüssig. Wenn dich das Geräusch von Mandelkauen im Schlafsaal stört, bist du reizbar. Du hast dich selbst gefunden. Wenn du hinter einer Seilsperre stehend mit einem Kirchendiener streitest, bist du streitlustig. Du hast dich selbst gefunden. Wenn du das Abendessen eines Pilgers bezahlst, dem das Geld ausgegangen ist, bist du großzügig. Du hast dich selbst gefunden.
Über die letzten, zermürbenden neun Kilometer bringt mich nur die schiere Willenskraft. Ein kurzer, aber steiler Anstieg zwischen Bruchsteinmauern und Weißdornhecken nach Alto San Roque endet bei der Statue eines den Elementen trotzenden Pilgers, die in diesem Moment fehl am Platz wirkt. Er hält seinen
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