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Ich bin da noch mal hin

Ich bin da noch mal hin

Titel: Ich bin da noch mal hin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Butterfield
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Ruf.
    »Bonjour! Bonjour! ¡Buen Camino!«
    Die Franzosen kommen. Wir Pilger aller Nationalitäten erkennen sie immer daran, dass sie statt »¡Hola!« »Bonjour!« sagen. Dass sie das spanische »¡Buen Camino!« benutzen, zeigt uns, dass sie sehr wohl wissen, dass dieser Teil des Camino Francés durch Spanien verläuft und nicht durch Frankreich. Aber das hier sind keine gewöhnlichen französischen Pilger. Als ich aufblicke, sehe ich eine Kolonne schlanker Männer und Frauen, die zwischen den Tischen vier rikschaähnliche Fahrzeuge hindurchbugsieren. Jedes Gefährt bedarf zweier Läufer, einer vorn und einer hinten, um die darin sitzende Person an den zechenden und speisenden Gästen vorbeizubefördern. Die vier Passagiere der Rikschas könnten die Pilgerreise niemals allein bewältigen. Es sind Behinderte, die auf fremde Hilfe angewiesen sind.
    »Bonjour! ¡Buen Camino!«, rufe ich zurück.
    Ausnahmsweise vergebe ich den Franzosen einmal ihre Sonderbarkeit.
    Fühle ich mich von den schrecklichen Nachrichten in El País deshalb so betroffen, weil ich mich schon so lange im Umfeld des Camino bewege? Da draußen, außerhalb der Pilgerblase, ist im Iran eine Frau zum Tod durch Steinigung verurteilt worden. Der Fall von Sakineh Mohammadi Ashtiani, die wegen Ehebruchs und Beihilfe zur Ermordung ihres Ehemanns schuldig gesprochen wurde, hat einen weltweiten Aufschrei und zahlreiche Gnadenappelle ausgelöst. El País verschont den Leser nicht mit Details der bevorstehenden entsetzlichen Prozedur und berichtet, wie tief Sakineh begraben und welche »offizielle« Größe die Steine haben müssen, mit denen sie getötet wird. Ich hätte nie geglaubt, eines Tages zu erfahren, dass Steine, die groß genug sind, um das Opfer sofort zu töten, ebenso als »zu milde« gelten wie Kiesel, die dazu zu klein sind. Nur ein handtellergroßer Stein hat »die richtige Größe«.
    Blickt man von meinem Camino-Idyll aus auf die Welt, so scheint es unmöglich, dass es auf diesem Planeten derartigeSchlechtigkeit gibt. Der Camino hat seine Wurzeln im tiefen Mittelalter, aber er hat sich weiterentwickelt. Ich kann nicht akzeptieren, dass die mir garantierte Freiheit von Leid und Schrecken so vielen Menschen verweigert wird. Meine Schwester reagiert sofort auf meine aufgebrachte SMS und schreibt, dass die Hinrichtung Sakinehs vorerst ausgesetzt wurde. Vorerst? Einen Augenblick lang habe ich geglaubt, ein Gebet zum heiligen Jakob in Santiago könnte helfen, und für Sakineh Mohammadi Ashtiani würde ich beten. Aber wenn die »richtige« Welt von Heiligen nach wie vor nichts wissen will, dann sollte ich es vielleicht auch nicht so eilig haben, dorthin zurückzukehren. Möglicherweise wäre es besser, die Welt käme hierher und würde lernen, wie auf dem Camino gelebt wird.
    Ich schlendere durch das winzige Dörfchen bis zum Ende der unteren Straße, damit ich genau weiß, wo es morgen losgeht nach Sarria. Wenn ich mich vertue, werde ich stattdessen im Kloster in Samos ankommen, was ich vermeiden möchte. 2001 waren Shelagh und ich im strömenden Regen nach Samos gewandert. Hans hatten wir zurückgelassen. Wir hatten eine Flasche herben galicischen grapa gekauft und am Abend so viel davon getrunken, dass ich am nächsten Morgen nicht aus dem Bett kam. Shelagh (die in der Herberge genächtigt hatte) musste mich am Morgen erst aus meinem Zelt zerren und mit gutem Zureden dazu bringen, mit ihr zu unserem Treffpunkt mit Hans zu wandern. Wenn sie nicht gewesen wäre, hätte ich vielleicht keinen der beiden je wiedergesehen. Allerdings ist bislang jeder Versuch, auf diesem Camino in unsere neun Jahre alten Fußstapfen zu treten, eine Enttäuschung gewesen. Für das Gelingen des diesjährigen Camino war es bislang ausschlaggebend, 2001 zu vergessen, andere Herbergen zu wählen und neue Pilger kennenzulernen. Morgen werde ich also nicht um der guten alten Zeiten willen nach Samos gehen. Shelagh, die den Camino nicht noch einmal machen will, würde das verstehen.
    Der Priester in San Juan de Ortega, der die gute Knoblauchsuppe kochte, hatte Shelagh gewarnt, keine Sucht nach Pilgerreisen zu entwickeln, sondern die Lektionen auf ihr normales Leben zu übertragen. Er riet ihr außerdem, schweigend zu gehen, »denn dann werden Sie die Stimme Gottes vernehmen«.Shelagh gab den Versuch, sich an dieses Schweigegebot zu halten, immer dann auf, wenn sie mit Hans und mir unterwegs war. Eigentlich müsste ich mich schuldig fühlen, weil ich ihren Zugang zu Gott

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