Ich bin da noch mal hin
Straßen. »Große Gefahr in der Calle Estafeta … eine Person aufgespießt, zwei niedergetrampelt«, verkünden die Untertitel. Ich wäre wahrscheinlich auch wütend, wenn ich durch eine betrunkene Menschenmenge stürmen müsste, anstatt in Ruhe auf einer Wiese in Navarra Gras wiederzukäuen.
Ich weiß nicht, was mit Hermann Künig von Vach los ist. Lozano zitiert häufig die kernigen Kommentare dieses Servitenmönchs, dessen »Wallfahrtsbuch des Hermann Künig von Vach« 1495 eindrucksvolle sechshundertundvierzig Zeilen umfasste, darunter allerdings die suggestive Aussage: »Willst du nicht nach La Faba hinaufsteigen, so lass es links liegen und geh über die Brücke zur Rechten.« Zum Glück treten heutige deutsche Pilger in die Fußstapfen ihres zeitgenössischen Vorgängers Hans-Peter Kerkeling und nicht in die des den Aufstieg scheuenden Mönchs Hermann. Der Stuttgarter Jakobsverein hat La Faba zurecht als einen Ort erkannt, der ihre großartige, hinter Bäumen versteckte neue Herberge verdiente. Auf dem Rasen vor dem Chalet im Alpenstil steht die Bronzestatue eines mittelalterlichen Pilgers. Seine Sandalen hat er nicht wie die Pilgerskulptur in León neben sich liegen, stattdessen hat er etwas typisch Deutsches. Nicht nur, dass er sich mit dem Gewicht eines schweren Wanderstabs abzumühen scheint, seine freie Hand hält außerdem, wie es aussieht, einen Stein. Was steht bloß in den deutschen Pilgerführern, das die Pilger dieses Landes in Angst vor den Hunden auf dem Camino versetzt?
Zwischen den hohen Grasböschungen am Rande des nächsten Dorfes, Laguna de Castilla, zieht eine ganz in Weiß gekleidete, sehr spirituell wirkende Frau einen selbstgebauten Karren an den purpurfarbenen Fingerhutstauden einer Hecke vorbei. An dem roten Rucksack auf ihrem gebeugten Rücken hängen sicher befestigt eine Schaumstoff-Isomatte und ein Blechbecher. Dass sie eine Art Mystikerin ist und nicht bloß ein Lasttier, schließe ich aus den beiden Rosenkränzen, die an ihrem Handgelenk und ihrer Taille baumeln, aus dem Holzkreuz um ihren Nacken und aus dem Notizbuch in ihrer Hand.
»Hallo! Sind dir all diese Sachen nicht viel zu schwer?«, frage ich.
Die weißhaarige Frau bleibt stehen, und ich auch, denn wir wollen ein echtes Lasttier überholen lassen. Ein Mountainbiker schiebt seinen Drahtesel den steilen Steinpfad hinauf, findet aber noch Zeit, die Mystikerin wie ein Wesen aus einer anderen Welt anzustarren. Mir wird klar, dass sie tatsächlich nicht vondieser Welt ist. Sie blinzelt ins Sonnenlicht, als wir aus dem Schatten der Hecke treten und über einen Drahtzaun in das angrenzende Tal blicken, das nach Galicien hineinreicht. Gerade will ich sagen, dass dies vielleicht die schönste Aussicht auf dem ganzen Camino ist, als ich merke, dass der Blick der Frau nicht fokussiert ist. Wahrscheinlich sieht sie kaum etwas von der Landschaft. Sie ist fast blind.
»Tut mir leid, ich spreche nicht gut Englisch«, entschuldigt sie sich.
»Ach, kein Problem, ich bitte dich. Ist es schwierig … mit dem Gepäck?«
» Nay, es ist einfach. Ich habe es schon von Saint-Jean-Pied-de-Port bis hierher geschafft«, sagt sie, um mir zu beweisen, dass sie gut zurechtkommt.
»Ich sehe, du schreibst«, sage ich und deute auf das Notizbuch. »Ich auch! Über was schreibst du denn?«
»Meine Visionen. Ich bekomme sie aus der Luft«, lässt sie mich auf Deutsch wissen.
»Visionen? Zum Beispiel?«
»Sie kommen von Gott.«
»Es tut mir leid, dass ich nur ein bisschen Deutsch kann. Darf ich nach deinem Namen fragen?«
»Gaby.«
»Auf Wiedersehen, Gaby. Ich hoffe für dich ein Buen Camino!«, sage ich unter Auferbietung all meiner Deutschkenntnisse. Visionen! Was habe ich bloß falsch gemacht? Alles, was mir heute versprochen wurde, war ein Unwetter, bei dem es Oktopustinte regnet, und alles, was ich je aus der Luft bekomme, ist eine Brise.
Gaby macht in keinem der beiden steinernen Cafés Station, die in Laguna de Castilla, einem winzigen Örtchen, am Weg liegen. Ich bin bereits so guter Stimmung, dass mir eine Tasse Kaffee vielleicht zum endgültigen Durchbruch in die Sphäre der Visionen verhilft. Doch bevor ich das neben einem Bauernhaus gelegene Café A Escuela betrete, höre ich hinter mir Hufgeklapper. Das kann nur eine ganz bestimmte Frau sein, und ihr Pferd. Ich blicke über die Schulter und sehe Mara, die Secret über den Kiespfad zum Tor von Galicien lenkt.
»Mara! Hallo! Ich dachte, du bist vielleicht schon in
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