Ich bin da noch mal hin
zappelnde Pilger die leeren Plätze um ihn her eingenommen haben.
Wenn er noch lange so weitermacht, werden irgendwann alle Anwesenden auf der Bühne sein. Die leeren Bankreihen werden einen traurigen Anblick bieten, und für die Messe wird es zu spät sein. Plötzlich entdeckt Pater Augusto mich, immer noch allein in meiner Bank.
»Hier vorn sitzt eine Frau allein«, stellt er fest. »Kommt nach vorn, noch mehr Leute!«
María, die leidgeprüfte Assistentin, widmet sich wieder ihrer Hauptaufgabe – Pilger zusammenzutreiben. Das denkbar beste Geschenk, das man ihr machen könnte, wäre ein Lasso, denn ihr unermüdlicher Einsatz passt besser zu einem Rodeo als zu einer Messe. Ich bewundere gerade ihren Eifer, als Pater Augusto etwas tut, was ich in Spanien schon oft beobachtet habe: Er ändert den Kurs.
»Setzt euch! Setzt euch alle! Die Messe ist Herzenssache, und ihr seid müde. Auch Jesus ließ sich zum Abendmahl nieder! Die Messe ist keine Turnstunde!«
Da er Spanisch spricht, weiß ich nicht, wie viele Pilger seine überraschend originelle Interpretation des Abendmahls verstanden haben. Doch es sind viele Spanier unter uns, und so nehmen alle in den Kirchenbänken Stehenden ebenso wie die Freiwilligen auf der »Bühne« Platz, und die Messe kann beginnen.
»Gott ist mit euch. Lasst uns den Blick nach innen wenden und uns fragen, was da herausmuss. Wir sind keine Teufel, aber wir sind auch nicht vollkommen.«
Ist das die Messe? An einen Passus, der versichert, dass wir keine Teufel sind, kann ich mich gar nicht erinnern. Aber ja, wir sind noch beim Bußritual: Pater Augusto beichtet unsere Sünden und bittet Maria, die Engel und die Heiligen, für uns zu beten.
»Herr im Himmel, sei uns gnädig und vergib uns unsere Sünden.«
Das Gloria, jene Melodie, die ich als Teenager in der Saint Saviour’s Church so gern gesungen habe, lassen wir offenbar aus: »Oh Lamm Gottes, das du trägst die Sünden der Welt, erbarme dich unser.«
»Lasst uns beten. Wir bitten, dass all die Pilger auf dem Camino nach Santiago zu sich selbst finden mögen. Das ist nicht einfach. ›Ich bin vollkommen‹, sagen wir. ›Mein Mann, meine Frau machen mir das Leben schwer!‹ Ganz im Gegenteil! Gebt nicht anderen die Schuld! Wir sind hier, um Jesus, Santiago, inneren Frieden, Glück und Hoffnung zu finden. Wenn wir nicht in Frieden mit uns selbst sind, wie können wir in Frieden mit anderen leben? Amen.«
Dass wir mittlerweile beim Wortgottesdienst angekommen sind, schließe ich daraus, dass ein spanischer Pilger von einem Blatt abliest, das María zuvor flink an die »Freiwilligen« verteilt hat. Der ausgewählte Abschnitt aus Paulus’ erstem Brief an die Korinther soll, so mutmaße ich, Pater Augustos Sichtweise dessen Nachdruck verleihen, worum es im Camino und im Leben geht.
»Wenn ich mit Menschen- und Engelszungen rede, Liebe aber nicht habe, so bin ich ein tönendes Erz … Und wenn ich … alle Geheimnisse und die ganze Erkenntnis weiß; und wenn ich allen Glauben habe, so dass ich Berge versetzen kann, Liebe aber nicht habe, so bin ich nichts.«
Unser weiß gewandeter Priester blickt über den Rand seiner Brille hinweg (liebevoll) unseren mutigen Leser aus der Laienschar an. Jetzt liest eine englische Pilgerin aus dem Lukasevangelium vor. Hinter dem Altar hervor beschreibt sie mutig, wiezwei Mitglieder von Jesus’ eigener Gemeinde ihn nach der Auferstehung an der Straße nach Emmaus nicht erkannten.
»Zwei von ihnen gingen an demselben Tage in ein Dorf, …, dessen Name ist Emmaus. Und sie redeten miteinander von all diesen Geschichten … Da nahte sich Jesus selbst und ging mit ihnen. Aber ihre Augen wurden gehalten, dass sie ihn nicht erkannten. Er aber sprach zu ihnen: ›Was sind das für Dinge, die ihr miteinander verhandelt unterwegs?‹ Da blieben sie traurig stehen.«
»Was denkt ihr darüber?«, fragt Pater Augusto unvermittelt.
Ich habe tatsächlich eine Meinung dazu, halte es aber für besser, nichts zu sagen. Ich habe mich gefragt, was an der Straße nach Emmaus anschließend passiert ist. Haben die beiden Dummköpfe, die Jesus zu seinen Lebzeiten folgten, ihn letztendlich erkannt? Darüber werde ich mir später Gedanken machen müssen, denn jetzt hat offenbar die Predigt begonnen. Ich bin ganz Ohr.
»Es ist nicht wichtig, dass ihr viele Ziele habt, aber ein oder zwei, die ihr auf dem Camino entwickeln könnt. Manchmal ist unsere Bildung für unsere leeren Köpfe verantwortlich, doch der Camino ist
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