Ich bin da noch mal hin
eine Reise nach innen. Zu viele Pilger kommen als Touristen, sie sind flatterhaft wie die Vögel.«
Es ist nicht das erste Mal, dass ich von Kirchenmännern Kritik am Tourismuscharakter des Camino höre.
»Der Camino ist dazu da, uns selbst zu finden und zu begreifen, dass wir uns nicht voneinander unterscheiden. Was bedeutet es, Christ zu sein? Es bedeutet, Jesus nachzueifern, nicht bloß, sich während des Gottesdienstes religiös zu gebärden. Wir müssen das leben, was wir empfinden: ›Es muss mein eigenes Leben sein, nicht eines nach fremden Vorstellungen.‹ Die Liebe , nicht die Angst macht uns zu Christen. Die Hölle haben wir bereits in unserer Gesellschaft, nicht aber den Himmel, weil wir ihn nicht wollen.«
Der junge brasilianische Pilger, der die Worte des Priesters die ganze Zeit über in korrektes Englisch übersetzt hat, springt plötzlich die Altarstufen hinunter und rennt durch den Mittelgang auf den Friedhof hinaus. Wir hören, wie er zwischen den Gräbern erbricht. Ein paar Pilgern, die an der Tür stehen, ruftPater Augusto in einem flammenden Appell an ihre Menschlichkeit zu: »Helft ihm! Helft ihm!«
Als die Pilger an der Tür sich immer noch nicht entschließen können, einzugreifen, weist Pater Augusto María an, Wasser aus der Sakristei zu holen, und läuft selbst damit hinaus.
»Das ist ein kranker Mensch, kein Hund!«, mahnt er uns, während er seinem erschöpften Dolmetscher Hilfe leistet.
Ein junger polnischer Priester, der selbst nach Santiago pilgert, nimmt die Hostie vom Altar. Diese hilfreiche Geste macht klar, wo wir uns offiziell befinden – in einer Messe. Pater Augusto hebt den Abendmahlskelch und beginnt mit dem Eucharistiegebet.
»Wir sind Egoisten«, verkündet er, obwohl manche von uns sich immer noch nicht von dem Etikett »Tourist« erholt haben. »Wir kennen einander nicht. Hilf uns, einander auf dem Weg nach Santiago mit Respekt zu begegnen. Herr, nimm die Vorsätze, Probleme, Vorhaben, Freuden und Irrtümer aller Anwesenden an. Lasst uns all derer gedenken, die niemanden haben.«
Die Freiwilligen auf der Bühne fassen sich an den Händen. In der Mitte steht Pater Augusto, der die Arme himmelwärts sendet, um sie dann schwer sinken zu lassen. Die beiden machtlosen Pilger zu seinen Seiten scheinen in einem Rührstück gefangen, die übrigen armen Freiwilligen scheinen unschlüssig, ob sie dieses Partyspiel mitmachen sollen. Derartige Verwirrung habe ich zuletzt in Villasirga auf den Gesichtern der Jünger auf dem retablo gesehen, die Zeugen werden, wie Maria in den Himmel auffährt.
»Manchmal«, sagt Pater Augusto, ziemlich verzweifelt angesichts der Schwächen seiner heutigen Schäfchen, »so glaube ich, halten wir uns an den Händen wie ein verheiratetes Paar. Als ginge es bloß um einen Vertrag. Oder so, als hätten wir die Parkinsonsche Krankheit.«
Lassen es die Freiwilligen an Begeisterung mangeln, einander an den Händen zu halten? Bin ich froh, nicht da oben zu sein!
»Umarmen wir uns! Alle!«
Alle? Will mich denn niemand von diesem aufrührerischen Priester befreien? Was wird er noch verlangen? Ich will nurnoch weg hier, lehne mich aber an meine Kirchenbank, um flüchtig eine Frau zu umarmen und ein verlegenes Lächeln mit ihr zu tauschen. Reicht das etwa nicht? Nein, es reicht nicht. Ich gehe durch die Kirche und umarme tatsächlich sämtliche anderen Pilger. Die Übrigen tun es mir gleich. Erst dann gestattet man uns, den Leib Christi zu empfangen.
Eine Aufgabe bleibt den Freiwilligen noch. Sie müssen auf Spanisch, Englisch, Französisch, Italienisch, Portugiesisch und Polnisch den heiligen Jakob bitten, dass wir unsere Stärken entdecken und in den Dienst anderer stellen.
»Amen«, sagen wir schließlich am Ende des ersten Gebetes – zu leise.
»¡Más alto!« (Lauter!), ruft der unermüdliche Priester, damit wir bloß nicht wieder in Trägheit verfallen.
Danach tönt unser Amen beträchtlich lauter. Pater Augusto wirkt trotzdem noch irgendwie enttäuscht. Eine bestimmte Nationalität hat er an diesem Abend in seiner Gemeinde vermisst.
»Deutsch? Deutsch? Wo sind sie denn?«
Keine Antwort.
»Schlafen die Deutschen alle?«
Das kann sein. Oder aber sie sind bloß Touristen und haben sich die Messe erspart.
Sonntag, 11. Juli 2010 und Montag, 12. Juli 2010
Ich wandere 46 Kilometer von Triacastela über Sarria nach Portomarín und … Spanien bestreitet in Johannesburg in Südafrika das WM-Endspiel gegen Holland
Mir reicht’s allmählich.
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