Ich bin da noch mal hin
es toll, zum ersten Mal in unserem Leben richtiges Geld zu verdienen. Doch am Fließband, wo wir wie Roboter Tuben mit Gel gegen Schleimhautentzündung, die für den Export nach Australien bestimmt waren, in kleine Pappschachteln steckten, waren wir bald trübsinnig geworden. Ich fühlte mich, als steckte ich wie die Tuben in einer engen Schachtel, und begann davon zu träumen, über die Pyrenäen zu radeln, sobald ich dort rauskam. Das erwies sich als einfacher als gedacht – dort rauszukommen, meine ich, nicht, über die Pyrenäen zu radeln. Einige von uns (die Idee stammte zugegebenermaßen von mir) schrieben ihre Namen und Adressen auf Papierschnipsel, die wir zu den Tuben in die Schachteln steckten, wenn der Vorarbeiter nicht hinsah. Auf den Zetteln stand etwa: »Ich bin die Sklavin, die diese Tube eingepackt hat. Willst du mein Brieffreund werden?« Eine Woche später wurde ich gefeuert, angeblich, weil ich nach der Mittagspause zu spät zur Arbeit zurückgekommen war, wahrscheinlich aber eher wegen meines trotzkistischen Einflusses auf die Belegschaft. Seitdem sind mir Firmenleitungen suspekt.
Um ehrlich zu sein, war ich sogar froh, der nervtötenden Monotonie entkommen zu sein, und trug meinen Lohn sofort zu Hargreaves Cycles, einem Fahrradgeschäft in Dewsbury. Das Fahrrad, das ich dort erstand, brachte mich zwar nicht über die Pyrenäen, aber immerhin durch die nahe gelegenen North Yorkshire Moors. Wie man zu den Pyrenäen kam, wusste ich nicht, an meinen Ausgangspunkt York hingegen konnte meine Mutter mich mit dem Auto bringen. Und nun, dreiunddreißig Jahre später, stehe ich endlich kurz davor, meinen Traum zu verwirklichen. Eine Tafel mit Aushängen für Touristen an der Porte d’Espagne beschreibt, wie es losgehen soll: »Auch heutenoch sind am frühen Morgen auf dem Kopfsteinpflaster der Rue d’Espagne die Schritte von Pilgern zu hören. Wie im Mittelalter verlassen die Pilger nach der Nachtruhe entschlossen die Stadt, bereit für den gefürchteten Weg über die Pyrenäen.« Jetzt, um 8 Uhr 35, ist der frühe Morgen schon vorüber und die Schritte der Pilger sind bereits verklungen.
Die Straße ist auf den acht Kilometern bis Arnéguy so eben, dass ich mir gar nicht vorstellen kann, wie ich auf ihr jemals die Pyrenäen überqueren soll. An einer Stelle geht es sogar abwärts, hinunter nach Las Ventas, einem höchst weltlichen Komplex von riesigen Duty-free-Läden mit Werbeplakaten für sämtliche Whiskeymarken, die je destilliert worden sind. Ich schieße an den Alkoholika vorbei hinunter zur Brücke bei Arnéguy, wo ein großformatiges Schild mich im Königreich Navarra, dem Land der Vielfalt, willkommen heißt. Ich bin in Spanien! Die Vielfalt ist nicht gleich offenkundig, vorerst radle ich zwischen einer Repsol-Tankstelle und einem Laubwald hindurch. Und dann passiert etwas, worauf ich gewartet habe: Die Straße beginnt anzusteigen. Einigermaßen gemächlich zunächst, sodass sogar ich Gang um Gang zurückschalten kann. Ich erreiche Valcarlos und parke im zweiten Gang bei einem Laden, neben dessen Eingang handgeschnitzte hölzerne Heugabeln lehnen. Ich brauche eine Tasse Kaffee, kein Arbeitsgerät für die Heuernte, also mache ich mich zielstrebig auf den Weg hügelabwärts ins Dorf.
Als ich al fresco meinen café con leche mit einem pain au chocolat genieße, fährt ein Ehrfurcht gebietender Radfahrer in den Hof des Cafés. »¡Hola!«, grüßt er und verschwindet im Café. Während er drinnen ist, studiere ich sein robustes schwarzes Fahrrad, das von einem richtigen, am Rahmen befestigten Ständer aufrecht gehalten wird. Hm. Vier Packtaschen, zwei vorne, zwei hinten. Statt der Satteltasche ein Zelt. Eine Lenkertasche vervollständigt das Gepäcksortiment. Es ist die Harley Davidson unter den Fahrrädern.
Er setzt sich an den Nebentisch und erzählt mir, dass er in Den Haag gestartet ist. Ich werde noch kleiner, als ich erfahre, dass er oft nachts radelt – als wären fünfzehn Stunden Tageslicht für die Riesenentfernungen, die er zurücklegt, nicht ausreichend.
»Ich habe dich heute schon mal gesehen«, sagt er, » du hast dein Fahrrad einen Hügel hinaufgeschoben.«
Ausgerechnet das eine Mal, das einzige Mal an diesem Vormittag, als ich es nicht geschafft habe, rechtzeitig zu schalten, musste jemand mich sehen. (Der Hügel vor dem Restaurant Lizarra Ostatua ist tödlich.)
»Hm, ja, ich musste mich erst an die Schaltung gewöhnen«, sage ich zu meiner Verteidigung. »Wo fährst du
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