Ich bin da noch mal hin
Ohrstöpsel halten so effizient Helligkeit und Geräusche ab, dass mich an diesem Morgen weder das Licht der Morgendämmerung noch das Auf- und Zuziehen von Reißverschlüssen, weder das Aufreißen von Klettverschlüssen noch das Öffnen von Türen und Fenstern weckt. Als ich um halb sieben langsam zu mir komme, sind alle anderen Schlafstellen bereits leer. Die am Fußende der Betten ordentlich aufgereihten Rucksäcke verraten mir allerdings, dass die anderen Pilger noch irgendwo in der Nähe sein müssen. Ich klettere vom Stockbett Nummer 112 hinunter auf den blank gewienerten Fußboden und ziehe Fahrradshirt und Shorts unter dem Bett hervor. Am Abend zuvor hatte ich sie in einem Anfall vorbildlicher Planung aus Tasche 2 gezogen, um für einen frühen Aufbruch gerüstet zu sein. Leider liegt auch fast der gesamte übrige Inhalt beider Fahrradtaschen auf dem Boden und wartet darauf, nach dem Frühstück zusammengepackt zu werden. Schon jetzt begreife ich, dass ich mich besser organisieren und mir die Technik des »Packens am Vorabend« zur Gewohnheit machen muss, die hier im Raum allenthalben so schön zu beobachten ist.
Ich durchquere den Schlafraum und öffne die Tür zum Speisesaal. Da sitzen sie alle dicht gedrängt an den Tischen, kauen Toast und trinken Kaffee aus Duralex-Glasschalen, wie wir sie in der Grundschule hatten. Ich bekomme ein Getränk gereicht und quetsche mich auf den einzigen freien Platz. Mir gegenüber sitzen Alison und Ian. Während ich Marmelade- und Butterreste auf meinen Toast kratze, fragt mich Alison, wie weit ich heute fahren will. Ohne eine bestimmte Route im Kopf zu haben, nenne ich den erstbesten Ort, der mir gerade einfällt.
»Bis Pamplona. Na ja, so weit wie möglich Richtung Pamplona. Oder vielleicht sogar weiter bis Cizur.« Diesen Ortsnamen habe ich gestern Abend im Gespräch mit Ken und Mike aufgeschnappt. Wenn das die Entfernung ist, die richtige Radler alsTagesetappe in Betracht ziehen, dann soll es auch mein Ziel sein.
Die Reihen der Pilger am Tisch lichten sich rasch. Zu zweit holen sie ihre Rucksäcke und gehen hinaus auf die Rue de la Citadelle. Sie nehmen ihren Camino auf, bevor ich auch nur fertig gefrühstückt habe. Als Ken und Mike ebenfalls aufstehen, werde ich unruhig.
»Wir sehen uns«, sagt Ken strahlend.
»Mmm. Ja, bestimmt«, antworte ich, schon halb in Panik.
Wo werden wir uns sehen? Da ich erst noch alles packen muss, kann ich unmöglich mit ihnen fahren. Als Nächstes brechen Alison und Ian auf, und nun bin ich wirklich die Letzte. Es ist erst sieben Uhr, wozu die Eile? Die Entdeckung, dass Pilger noch genauso sind wie vor zehn Jahren und morgens immer noch zu einer für meinen Geschmack unchristlichen Zeit aufbrechen, schlägt mir aufs Gemüt. Was, so hatte ich mich 2001 bereits gefragt, hat dieses »Rasen auf Blasen« für einen Sinn? Unterwegs nichts zu sehen und im nächsten Ort anzukommen, bevor die Cafés und Kirchen geöffnet haben? Der Grund, so erfuhr ich später, ist, dass die meisten die Mittagshitze meiden und früh genug in der nächsten Unterkunft eintreffen wollen, um sich ein Bett zu sichern. In meinen Augen war das eher zweitrangig verglichen mit der Möglichkeit, bei Tageslicht unterwegs zu sein und den Camino wirklich zu sehen . Klar, damals war ich mit dem Zelt unterwegs, brauchte mir also keine Gedanken über volle Herbergen zu machen. Dieses Mal ist für ein Zelt kein Platz, aber überfüllte Schlafquartiere bereiten mir trotzdem kein Kopfzerbrechen, schließlich kann ich, wenn nötig, immer noch die nächste Stadt ansteuern. Trotzdem fühle ich mich ein bisschen einsam und verlassen, als ich mein Frühstück allein beende. Also werde ich mir in Zukunft Mühe geben, auch um sieben startklar zu sein – und sei es nur, um ein wenig Gesellschaft zu haben.
Nach einer weiteren Stunde Listenkontrolle habe ich es geschafft, alle Sachen, die unter meinem Bett lagen, in die richtigen Taschen zurückzustecken. Ich lasse meine drei schweren Gepäckstücke neben dem Gartentor fallen, hole das Fahrrad aus dem Schuppen und belade es. Ein farbenprächtiger Teppich aus rotem Baldrian und weißen Gänseblümchen an der gegenüberliegenden Mauer erinnert mich an Jeff Koons Skulptur »Puppy« in Bilbao, und daran, dass ich heute Spanien erreichen werde.
Schon mit neunzehn hatte ich den Wunsch, über die Pyrenäen zu radeln. Der Gedanke kam mir während des Studiums bei einem unerträglich langweiligen Ferienjob. Meine Freundin Jane und ich fanden
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