Ich bin da noch mal hin
heute hin?«
»Nach Pamplona, und du?«
»Auch nach Pamplona. Hoffe ich.«
Werde ich es heute bis Pamplona schaffen? Für die elf Kilometer von Valcarlos nach Saint-Jean habe ich zwei Stunden gebraucht. Zwei Stunden? Das heißt, ich fahre mit fünfeinhalb Kilometer pro Stunde; und habe noch mehr als sechzig Kilometer vor mir. Bis Pamplona werde ich zwölf Stunden brauchen. Jetzt ist es zehn vor elf. Wenn ich so weitermache, bin ich heute Nacht um elf in Pamplona. Darum also radelt der Holländer nachts. Das passiert eben. Na, mir nicht. Wie bin ich bloß auf die Idee gekommen, ich könnte es an einem Tag von Saint-Jean nach Pamplona schaffen? Wessen Idee war das überhaupt? Die von Ken und Mike? Jetzt erinnere ich mich. Es war ihre Idee. Tja, ich muss es ihnen ja nicht nachmachen. Ich kenne sie nicht einmal. Der Col d’Ibañeta, mein nächstes Ziel, ist 1087 Meter hoch und sechzehn Kilometer entfernt. Das schaffe ich, zumindest da bin ich mir sicher. Und dann geht es bis Roncesvalles nur bergab.
»Also, tschüs dann«, sage ich munter zu dem Superradler aus Den Haag. »Man sieht sich!«
In Pamplona allerdings bestimmt nicht.
Ich schleppe mich hügelaufwärts zu meinem Fahrrad zurück, vorbei an einem Plakat, das das Kloster von Roncesvalles im Winter zeigt. Ein spektakulärer Anblick, wie es sich über dem schneebedeckten Wald erhebt. Und an diesem strahlenden Sommertag schwer so vorstellbar. Langsam radle ich bergauf und lasse die Heugabeln hinter mir zurück. Ruhig und rhythmisch trete ich in die Pedale. Wenn die Straße ebener verläuft,sitze ich auf dem Sattel, bei jeder kleinen Steigung stehe ich auf und übe kräftig Druck auf die Pedale aus. Mein Atem geht schnell und flach, so könnte ich ewig durchhalten, und meine Oberschenkel werden mit diesen höheren Anforderungen spielend fertig. Und nicht nur das, ich habe mir für den schlimmsten Fall sogar noch den ersten Gang aufgespart. Eine kaum merkliche Bewegung in den Zweigen macht mich auf einen Dompfaff aufmerksam, der in den dunklen Abgrund hinunterfliegt, aber ich lasse mich dadurch nicht aus dem Tritt bringen. Eine leichte Brise und der Schatten, den die Wälder zu beiden Seiten spenden, kühlen mich, während ich aufwärtsstrample, weiter und weiter weg von Valcarlos, höher und höher dem Col zu und näher und näher heran an das unbekannte Ziel des Abends. Ich tue etwas, das ich schon lange tun wollte – ich radle über die Pyrenäen.
Ich habe keine Ahnung, wie weit ich schon gekommen bin oder wie spät es ist. Eine Armbanduhr trage ich nicht, und mein Handy ist außer Reichweite in der Satteltasche. Ich bin entschlossen, erst anzuhalten, wenn ich den Col d’Ibañeta erreicht habe, bloß wo ist er? Ein Pfad zu meiner Linken bietet jedem, der diese Route zu Fuß absolviert, einen aussichtsreicheren Weg durch den Buchenwald hinauf zum Col. Für mich ist das keine Alternative, ebenso wenig wohl für die junge Pilgerin, die ich ein Stück weiter unten einen Kinderwagen habe schieben sehen. Ich weiß nicht, ob in dem Wagen ein Baby lag oder ob sie darin ihr Gepäck transportierte. Wahrscheinlich hätte ich ihr sagen sollen, dass es heutzutage Rucksäcke gibt, mit denen man während des Wanderns die Hände frei hat für wichtige Dinge, etwa, um den Reiseführer aufzuschlagen oder eine Banane zu schälen. Aber ich konnte nicht gleichzeitig reden und über die Pyrenäen radeln.
Der Wald um mich herum ist so ruhig, dass ich nur meinen eigenen Atem höre. Die Kurven sind enger geworden, seit ich den Dompfaff gesehen habe, und wenn ich mich nicht irre, wird die Straße steiler. Selbst im Stehen tritt es sich immer mühsamer. Es gibt keine flachen Abschnitte mehr, nur noch kurze, heftige Anstiege in Links- oder Rechtskurven. Jetzt ist esZeit, auf meine letzte Reserve zurückzugreifen und in den ersten Gang zu schalten. Ich betätige mit dem rechten Daumen den Schalter: Klick! Kratz! Ratter! Kratz kratz! Ratter ratter! Unheilvolle Geräusche. Die Kette befindet sich in irgendeinem Niemandsland zwischen erstem und zweitem Gang. Das ist die Ketten-Vorhölle. Mit jedem Pedaltritt entringt sich den Tiefen meiner Kehle ein lautes Stöhnen, als läge ich im Todeskampf. Mein Daumen bricht fast ab vor Anstrengung, den Hebel über seine Grenze hinaus zu zwingen. In dem winzigen Fensterchen am Schalthebel steht »1«, aber das ist gelogen. Ich weigere mich, vom Rad zu steigen, obwohl es schon fast steht. Stattdessen bewege ich mit dem rechten Zeigefinger den
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