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Ich bin da noch mal hin

Ich bin da noch mal hin

Titel: Ich bin da noch mal hin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Butterfield
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und fährt mir direkt ins Gesicht. Entschlossen kämpfe ich gegen diesen unsichtbaren Widersacher an, der mein Fortkommen behindert.
    »Na komm schon, Anne, komm schon! Du schaffst es. Du schaffst es. Komm schon!«
    Trotzig brülle ich gegen den Sturm an. Ich lasse mich nicht besiegen. Da ist die Kapelle, die den Gipfel markiert – ich bin fast da, ich bin da. Ich habe es geschafft. Ich bin über die Pyrenäen geradelt!
    Pilger, soweit das Auge reicht. Von der Route Napoléon kommend wuseln sie um die Kirche herum und fotografieren einander. Das ist die größte Menschenansammlung, der ich begegne, seit ich Saint-Jean verlassen habe, und ich hoffe, ein paar Kontakte knüpfen zu können. Aber sie halten sich nicht lange auf, sondern verschwinden gespenstergleich im Nieselregen Richtung Roncesvalles in den Wäldern. Gemessen an der übermenschlichen Anstrengung, die es mich gekostet hat, hierher zu gelangen, koste auch ich meinen persönlichen Triumph nicht sehr lange aus, sondern kauere mich gerade lang genug hinter der Kirche in den Windschatten, um meine pappigen belegten Brötchen aus dem Supermarkt zu essen. Dann ist es Zeit, mich den Haarnadelkurven der Abfahrt zu stellen. Ich schalte schnell hoch und trete auch abwärts noch in die Pedale, aber schon bald bin ich so in Fahrt, dass ich auch ohne Beinarbeit in voller Geschwindigkeit den Cize-Pass hinunterrase. Es ist beängstigend und aufregend zugleich. Wer glaube ich denn zu sein, Miguel Indurain? Nein, der ist aus Pamplona und hat angeblich acht Liter Lungenvolumen. Ich bin aus Leeds mit der entsprechenden Stadtlunge. Nachdem mir wieder eingefallen ist, wer ich bin, reduziere ich meine Geschwindigkeit, bevor ich noch gegen einen Baum knalle und die Dompfaffen erschrecke. Die Tücken des berüchtigten Cize-Passes ignoriert man nicht ungestraft. Hier blies der Sage nach in der Schlacht von Roncesvalles 778 Roland vergeblich in sein Horn Olifant, um den Heiligen Römischen Kaiser herbeizurufen, der den Truppen Karls des Großen, die sich den Sarazenen geschlagen geben mussten, hätten beispringen sollen. Und hier wurde im Jahr 2001 unser zeitgenössischer Held Hans-Peter Kerkeling von einem Bauern aus der Gegend mitgenommen und hat sich von einem Schaf über die linke Schulter kotzen lassen. Geschah ihm recht, warum ist er auch nicht gelaufen!
    Binnen weniger Minuten, in denen ich abwechselnd in den Kurven bremse und das Rad auf den Geraden frei laufen lasse, erreiche ich das Kloster am Fuß des Passes. Das Gefühl beim Ankommen ist ganz anders, als ich es von 2001 in Erinnerung habe. Die Erinnerung an meine persönliche Schlacht von Roncesvalles an diesem Vormittag im Baskenland geht einen Augenblick lang in den Schuldgefühlen unter, die ich empfinde, weil ich so schnell vom Col d’Ibañeta hierher gelangt bin. So ist das eigentlich nicht gedacht. Vor neun Jahren bin ich stundenlang in der Einsamkeit eines unheimlich stillen Buchenwaldes gewandert und so spät angekommen, dass der Schlafsaal schon fast voll war. Jetzt hingegen sammeln sich die Pilger bereits an der Klosterpforte, um ihren Anspruch auf ein Bett anzumelden, sobald um 16 Uhr geöffnet wird. Ich erwäge, die Stunde zu warten und die Nacht ebenfalls hier zu verbringen. Aber wenn ich jeden Tag die gleiche Entfernung zurücklege wie die Pilger zu Fuß, wie will ich dann die Zeit haben, den Camino auch noch zurückzufahren? Soll ich auf die historischen Sehenswürdigkeiten von Roncesvalles verzichten, wo Mönche seit dem zwölften Jahrhundert Pilger bewirten? Lohnt es sich, die mittelalterliche Statue der Madonna von Roncesvalles nur um der zweifelhaften Befriedigung willen zu verpassen, mehr Kilometer zu machen?Ich beantworte die Frage mit Ja und setze die Madonna auf meine geistige Liste der »unverzichtbaren Programmpunkte auf dem Rückweg«.
    Ich lehne mein Fahrrad an die Mauer des Silo de Carlomagno, einer Grabkapelle aus dem zwölften Jahrhundert, und vertiefe mich in Lozanos Belehrungen. Offenbar wurden im Mittelalter hier Pilger beigesetzt, die das Pech hatten, in Roncesvalles zu sterben. (Ich wusste doch, es hätte heute noch viel schlimmer kommen können.) Ein paar wandernde Pilger ziehen ebenfalls weiter, auf einem Fußweg durch die Wälder, den ich vor neun Jahren selbst eingeschlagen habe. Larrasoaña, Endpunkt der von Lozano vorgeschlagenen zweiten Etappe, liegt siebenundzwanzig Kilometer entfernt. Ich bezweifle, dass sie dort heute noch ankommen werden, aber ich werde es schaffen.

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