Ich bin da noch mal hin
aufstören. Wie spät es wohl ist? Da ich unmöglich mein piepsendes Handy einschalten kann, habe ich keine Ahnung, wie viel von dieser quälenden Nacht noch vor mir liegt.
Wie kann es bloß sein, dass im Nachbarbett Sabine liegt? Aber so ist es. Und irgendwo in der Nähe der Calle de los Portales schlummern zweifellos Barbara und Brigitte tief und fest in ihrer pensión . Sie alle werden am Morgen nach Navarrete oder sogar nach Nájera aufbrechen und mich zurücklassen. Denn eines weiß ich heute Nacht ganz sicher: Ich werde nirgendwohin aufbrechen, wenn es dämmert. Bevor ich nicht eine ganze Nacht lang durchgeschlafen habe – wann immer das auch sein mag –, weigere ich mich, irgendwo hinzuradeln. Ich werde noch mindestens einen Tag hierbleiben, wie Blanca schon geahnt hat. Deprimiert wegen der unleugbaren Tatsache, dass ich hinter die Wanderer zurückfallen werde, drücke ich mit einem tiefen Seufzer beide Handflächen gegen meine Stirn und hoffe, dass Sabine ihn nicht hört.
Wie kann es bloß sein, dass die Wanderer, die ich seit Trinidad kenne, mich überholt haben? Wo sind Alison und Ian? Ist dieses furchtlose Abenteurerpaar ebenfalls vor mir, auf dem Weg der Wanderer? Ich bewege mich nicht auf dem Weg der Wanderer fort, noch nicht einmal in der Nähe. Stattdessen trete ich gegen die geballte Macht der spanischen Speditionsunternehmen an, ob auf der N 1110, der A 12 oder der A 13. Wenn es bloß das wäre, doch hinzu kommen Herkulesaufgaben wie steile kopfsteingepflasterte Anstiege, dunkle Tunnel und Brücken im Stile der von Mostar. Und die Belohnung für diesen Hindernisparcours ist was? Womit genau kann ich angeben?Damit, dass ich an Römerstraßen vorbeigekommen bin? Dass ich aus dem Augenwinkel einen Blick auf Puente la Reina erhascht habe? Dass Estella ein Reinfall war? Dass ich die Kathedrale von Pamplona, die hinter mir dräute wie ein Schurke im Stummfilm, nicht einmal bemerkt habe? Was hat das alles für einen Sinn? Ich dachte, das Radeln würde mir mehr Zeit lassen, die Sehenswürdigkeiten zu besichtigen und andere Pilger kennenzulernen, doch Pustekuchen. Zwischen meiner Route und dem Weg der Wanderer liegen Welten. Wenn ich einmal einen Pilger auf dem Weg der Wanderer sehe, so sieht er mich nicht. Ich bin wie ein Geist in einer Geisterwelt, dessen flehentliche Bitten, ihn ins Reich der Lebenden zurückkehren zu lassen, ungehört verhallen.
Meine dunkle Nacht der Seele endet, als die Pilger sich auf den Weg machen. Die Pilger . Ich rechne mich nicht einmal mehr dazu. Das muss aufhören. Mein Bett ist das Einzige, das voller Gepäck liegt, als um acht Uhr die Putzfrau kommt, um für die nächsten müden Wanderer die Bettwäsche zu wechseln. Ich schnappe mir den Lozano und mache mich auf den Weg zum Pilgerinformationsbüro am anderen Ende der Puente de Piedra, die sich über den breiten Fluss Ebro spannt. Vielleicht gibt es dort jemanden, der mir helfen kann, mich auf dieser viacrucis zurechtzufinden.
»¡Buenos días, señora! En qué puedo ayudarle?« (Guten Morgen, gnädige Frau! Wie kann ich Ihnen helfen?), fragt lächelnd der Angestellte im Informationsbüro, der sich als Gonzalo vorstellt.
»Ich bin mit dem Fahrrad auf dem Weg nach Santiago«, erwidere ich heiser. »Ich bin von Saint-Jean aus über die Pyrenäen gefahren«, (wozu mein Licht unter den Scheffel stellen), »und gestern in Logroño angekommen. Aber ich habe ein paar Probleme. Schauen Sie, ich zeige es Ihnen.«
Meine klammen Hände schlagen den Lozano an der Stelle auf, an der die Strecke zwischen Los Arcos und Viana aufgezeichnet ist. »Ich bin auf dieser Straße, der alten N 111, die heute die N 1110 ist. Das ist doch nicht der richtige Camino, oder?«
»Nein«, sagt er.
»Und manchmal wird aus der Straße plötzlich die A 12. Und sehen Sie, wie weit diese Straße vom eigentlichen Camino entfernt ist?«
Gonzalo blickt auf die gepunktete rosa Linie, die den echten Camino zwischen Pamplona und Puente la Reina markiert. Zwischen ihr und der N 1110 klafft eine große Lücke.
»Sí«, stimmt er zu. »Sie liegen weit auseinander.«
Nachdem die Fakten also geklärt sind, ist es Zeit, um seinen Rat zu bitten.
»Wird das noch anders? In La Rioja vielleicht?«
»Moment mal, Ana«, sagt er. »Der Straßenverlauf ist inzwischen ganz anders. Haben Sie keine Karten dabei?«
»Nein. Ich dachte nicht, dass ich welche brauche. Ich bin den Camino vor neun Jahren gegangen, und die Radfahrer fuhren den gleichen Weg wie ich. Ich dachte,
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