Ich bin da noch mal hin
Auf dem Einband geht ein Pilger eine Straße entlang auf ein Schild mit dem Muschelsymbol zu. Der breite Rücken des Manns kommt mir bekannt vor, aber alles andere erscheint mir seltsam. Ich kenne keine lolliförmigen Camino-Schilder. Der Rucksack, den Hans trägt, ist nagelneu und wäre mit den elf Kilo überflüssigen Gepäcks, die er 2001 herumschleppte, geplatzt. Und er hat sich zwar Mühe gegeben, auf der Reise inkognito zu bleiben, sich aber nicht so einen Army-Sonnenhut aufgesetzt. Dieses unechte kleine Camino-Idyll hat so wenig mit meinem harten Kampf zu tun und machtmich so wütend, dass ich das Buch rasch aufschlage, um mich an die wahren Begebenheiten zu erinnern.
»Agradezco a Anne y a Sheelagh [sic] las experiencias compartidas« (Anne und Sheelagh danke ich für die gemeinsamen Erfahrungen) stellt Hans dem Buch voran. Gemeinsame Erfahrungen? Die zu machen ist dieses Jahr so unrealistisch wie das Cover und ebenso außer meiner Reichweite, wie es der echte Camino bisher gewesen ist. Es tut mir weh, diese Worte auch nur anzusehen, und ich blättere nach einem Foto, das mich vielleicht mehr motiviert. Hier ist eins: Shelagh und ich stehen im Regen in Galicien und starren mit grimmigen Mienen in die Kamera. Wir sehen genauso erbärmlich aus, wie ich mich jetzt fühle, und trotzdem machen mir die alten Fotos Mut. Typisch und wenig schmeichelhaft für mich ist, dass ich in dem uralten Regenmantel meiner Mutter dastehe, den Rucksack mit einer Plastiktüte abgedeckt, während sich in Shelaghs wasserdichtem Poncho, der auch über den Rucksack hängt, ihr vorausschauendes und umsichtiges Denken zeigt. Hätte ich doch nur diesmal vor dem Start über planerische Fähigkeiten verfügt. Doch immerhin hatten wir es beide bis nach Santiago geschafft, oder etwa nicht? Die Bildunterschrift jedoch, »Unschätzbare Bereicherung: Freunde auf dem Weg zu haben«, streut noch mehr Salz in meine Radfahrerwunden. Was für Freunde? Unter einem anderen Bild, auf dem Hans und ich Lippenstift zu tragen scheinen (was nicht der Fall war!), steht: Compañeros peregrinos (Pilgerweggefährten ) . Meine Stimmung sinkt unter den Nullpunkt. Gefährten? Wo sind sie jetzt? Shelagh ist mit ihren Töchtern in Irland und Hans wahrscheinlich im Winterpalais in Sankt Petersburg, wo er dem deutschen Fernsehpublikum seine Weltgeschichte vorstellt.
Ich wende mich dem Foto von Hans auf der Umschlagklappe zu. Diese Aufnahme, die ich vor einem hórreo , einem Getreidespeicher , in Galicien gemacht habe, kennen auch seine deutschen Leser. Er trägt darauf sein ewiges hellblaues Jeanshemd, und hält einen jener schweren, unpraktischen Wanderstöcke in der Hand, die sich deutsche Pilger gern an die Schlafzimmerwand hängen. Sein Gesichtsausdruck strotzt vor guter Laune. Wenn ich mich aus diesem Schlamassel retten und irgendetwas von dieser schlecht geplanten Odyssee mitnehmen kann, werde ich dann auch diesen inneren Frieden finden? Ob ich überhaupt noch mal aus dem Sumpf dieser Niedergeschlagenheit herauskomme? Hans scheint mir mit der letzten, herausfordernden Behauptung, die ich lese, genau diese Frage zu stellen: »El camino te plantea sólo una pregunta: ›¿Quién eres?‹« (Der Weg stellt jedem nur eine Frage: »Wer bist du?«) Ich weiß es nicht. Ich weiß überhaupt nicht, wer ich bin.
Ich nehme das Buch nicht mit – ich brauche die zwanzig Euro nötiger als Hans, denn ich muss jetzt alles kaufen, was ich für einen »buen Camino« benötige. Immerhin zweifle ich nicht mehr daran, dass ich einst eine Pilgerin war. Ich versuche mich wieder als solche zu fühlen und schlendere durch den Regen zur Kirche Santiago el Real. Mein Handy piepst in meiner Tasche, und ich bleibe auf der engen Calle Santiago stehen, um nachzusehen, wer sich da meldet. Es ist Hans-Peter Kerkeling.
»What’s up pilgrim? Wie geht’s? Hast du Spaß? Gott segne dich. Hans.« Hat er telepathische Fähigkeiten? Spürt er in Sankt Petersburg, was für Probleme ich habe? Oder ist es einfach ein Riesenzufall? »Was ist los, Pilgerin?« Alles ist los. »Wie geht’s?« Scheiße geht’s. »Hast du Spaß?« Natürlich nicht. Ich gebe den Kampf gegen die Tränen auf, den ich schon den ganzen Morgen führe. Zwei Möpse, die in den Rinnstein urinieren, blicken zu mir hoch, als sie mein ersticktes Schluchzen hören. Der Besitzer, der in dem starken Nieselregen seelenruhig eine Zigarette raucht, sieht ihnen ohne jede Spur von schlechtem Gewissen zu. Wenn es so weitergeht, wird die
Weitere Kostenlose Bücher