Ich bin da noch mal hin
einer einzigen Straße totgeschlagen habe. Juncal wäre alles andere als beeindruckt. Ich weiß nicht, warum ich mir nicht angewöhnen kann, mich an einem Ort nur fünf Minuten aufzuhalten, wie sie mir gestern Abend beim Essen empfohlen hat. Wie lange brauche ich, um einen alten Bekannten zu begrüßen und ein Croissant zu essen? Jetzt kann ich nicht einmal mehr Hans die Schuld zuschieben. Es ist eigentlich nicht verwunderlich, dass Hans und ich an manchen Tagen kaum in die Gänge kamen – offenbar bestärken wir uns gegenseitig im Trödeln. Was mich aber nun doch verwundert, ist, dass ich ohne seine Gesellschaft auch nicht entschlossener voranschreite. Ich schaffe es, ewig in den schmalen Straßen herumzubummeln, selbst wenn es dort auf den ersten Blick wenig gibt, was einen Pilger reizen könnte, der vor der Nachtruhe noch einiges vor sich hat. Ich hole tief Luft und rufe mir ins Gedächtnis, dass es ganz im Sinne des Camino ist, bei einem alten Mann vorbeizuschauen und ihm für seine Gastfreundschaft zu danken (obwohl er Spiegeleier auf einem schmierigen Tresen serviert hat). Bei strahlendem Sonnenschein ziehe ich weiter, entschlossen, erst wieder stehen zu bleiben, wenn ich in Castrojeriz angekommen bin.
Zwei Minuten später bringt mich eine Ameisenstraße, die meinen Weg quert, zum Anhalten. Ich gehe in die Hocke undbeobachte, wie die Tiere eins nach dem anderen, jeweils mit einem Stück Gerstenhalm beladen, über den staubigen Boden ziehen. Wozu brauchen sie die Gerste? Brauen sie in ihrer Kolonie etwa Bier? Dann breche ich meine Naturstudien abrupt ab, denn ich muss San Nicolás unbedingt so zeitig erreichen, dass ich eines der zwölf Betten abbekomme. Der mittelalterliche Charme der restaurierten Einsiedelei aus dem 13. Jahrhundert ist unwiderstehlich. 2001 gab es dort noch keinen elektrischen Strom. Sollte nicht inzwischen die Modernisierung dem Zauber ein Ende gesetzt haben, wird es heute für mich keine WM geben. Ich will die besondere Zeremonie, bei der ich vor neun Jahren Shelagh kennengelernt habe, noch einmal erleben. Wir saßen nebeneinander in einem Halbkreis ehrfurchterfüllter Pilger, als der hospitalero in seiner braunen Filzjacke in einer Geste der Demut Wasser über unsere Füße schüttete. Die Demut, die dadurch in mir selbst aufkeimte, bekam einen Dämpfer, als der andere hospitalero sich unvermittelt meine billige Wegwerfkamera schnappen wollte, mit der ich das eigentümliche Ritual zu dokumentieren gedachte. Er hatte allerdings nicht mit meiner Zähigkeit gerechnet – ich hielt die Kamera eisern fest. Also wirklich! Der Vorfall schockierte mich, denn die Verärgerung des Mannes widersprach für mein Empfinden dem Geist der zugewandten Waschungsgeste. Heute Abend werde ich fragen, ob ich fotografieren darf. Diesmal habe ich eine Digitalkamera dabei, und es wird etwas teurer, wenn ein griesgrämiger hospitalero sie zu Boden wirft.
Hinter dem Gerstenfeld erstreckt sich jenseits der Straße ein weitläufiges Felsengelände, in dessen horizontaler Verlängerung Castrojeriz liegt, in der vertikalen die kleinen weißen Wölkchen am blauen Himmel. Die Felsen haben die Form eines Brotlaibs und erinnern mich ebenso wie die Sierra de Atapuerca an die Yorkshire Dales, in denen meine Wanderbegeisterung ihren Anfang nahm. Unsere Sportlehrerin in der Schule, Miss Gatrell, führte uns an Wochenenden und in den Ferien durch die steilen Kalksteinzacken von Malham und Whernside, geleitete uns durch Sümpfe und zwang uns, neben schäumenden Wasserfällen in die Höhe zu klettern, bis wir schlammverdreckt und torfgeschwärzt eine Jugendherberge mit seltsamem Namen erreichten. Als Erstes sahen wir immer den Lichtschein der Fenster, denn wir trafen nie vor Einbruch der Dunkelheit in Dacre Banks oder Kettlewell oder wie sie hießen ein. Der Grund war, dass es 1973 nur Rucksäcke aus Baumwolle mit Metallgestänge gab, so schwer, dass wir nicht schnell genug vorankamen, um es bei Tageslicht zu schaffen. Hatte sich der Stoff erst einmal mit Regenwasser vollgesaugt, waren sie für unsere kleinen Körper kaum mehr tragbar, und wir weinten leise vor uns hin. Wir wussten, dass die Regentropfen und Dreckstreifen in unseren Gesichtern unsere Tränen verbergen würden. Falls Miss Gatrell die Hoffnung hegte, uns die Lust am Wandern zu verderben, um in Zukunft ohne uns gehen zu können, so hatte sie sich allerdings getäuscht – ich bin seitdem immer gern gewandert.
Eine Pappelallee führt auf die gewaltigen Ruinen des
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