Ich bin da noch mal hin
Klosters San Antón zu, das zu Ehren eines Eremiten, des heiligen Antonius von Ägypten, erbaut wurde. Ein riesiger gotischer Doppelbogen spannt sich über die Straße. Mich hätte es zu Tode erschreckt, im Mittelalter unter einem derart imposanten Bauwerk hindurchzugehen. Aber was weiß ich schon, wie die frühen Pilger den Camino wahrnahmen? Zweifellos befanden sie sich in einem Zustand der Verzückung, da sie damit rechneten, von den hiesigen Mönchen vom »Feuer des heiligen Antonius« (Rotlauf) kuriert zu werden, einer ansteckenden Hautkrankheit, die das mittelalterliche Europa heimsuchte. Die heilenden Mönche sind längst Geschichte, inzwischen stehen nur noch die Außenmauern des Klosters und die verwitterten Torbögen. Hinter der Mauer stempelt ein Freiwilliger mein credencial mit dem sello der kleinen Herberge – ein blauer Kreis mit dem griechischen Buchstaben τ, der die Gewänder der Mönche zierte, wenn sie Pilger von den brennenden roten Pusteln heilten. Heute brauche ich keine Wunderheilung, denn ich strotze geradezu vor Gesundheit, kein unappetitliches Geschwür verunstaltet meine Glieder. Verbesserungsfähig wäre allenfalls mein Seelenzustand, nämlich, indem ich ein paar Freundschaften schließe – aber auch ohne die bin ich erstaunlich zufrieden.
Könnte das eine Freundin werden? Eine junge Frau kommt hinter mir durch den Bogen geeilt, als ich gerade meinen fünfundzwanzigsten sello zum Trocknen herumwedle. Die schnelle Pilgerin marschiert an mir vorbei, woraufhin ich ihr rasch nachsetze, um mit ihr gemeinsam zur in vier Kilometer Entfernung auf einem Hügel gelegenen Burg von Castrojeriz zu gehen.
Ich weiß nicht, wie ich es schaffe zu sprechen, denn mein Puls rast genauso wie wir. Wahrscheinlich bin ich wild entschlossen, mich nicht von einer Frau in den Zwanzigern abhängen zu lassen, jedenfalls renne ich fast schon. Joggen könnte man es nennen. Ich erfahre, dass Marta aus Barcelona stammt und genauso schnell spricht, wie sie geht.
»Gestern wollte ich in San Antón übernachten, aber in Hornillos hielt mich die Polizei auf und erklärte mir, es sei Zeit, mir ein Quartier zu suchen.«
»Um wie viel Uhr war das?«, frage ich, beeindruckt von der Fürsorge der Polizei.
»Neun Uhr abends.«
»So spät warst du noch unterwegs?«
Ich kann kaum glauben, dass sie so unermüdlich ist, und versuche mit einem Seitenblick herauszufinden, was ihr so viel Kraft gibt. Ihre Jugend, beschließe ich.
»Ja. Die Polizei sagte, ich dürfe nicht weitergehen nach San Antón. Es sei nicht sicher. In diesem Monat seien schon drei Leute an Überanstrengung und Überhitzung gestorben.«
»Pilger, meinst du?«
»Ja, Pilger. Sie gehen zu weit und trinken zu wenig.«
Mir kommt der Gedanke, dass ich womöglich das nächste Todesopfer sein werde, wenn ich noch lange neben diesem Ausbund an Fitness marschiere.
»Und wo gehst du heute noch hin?«, frage ich atemlos.
»Nach Frómista.«
Aha, sie plant weiterhin lange Etappen. Fünfundzwanzig Kilometer hat sie noch vor sich, zwanzig ist sie seit Hornillos schon gegangen. Ich habe heute Vormittag von San Bol aus nur fünfzehn zurückgelegt, und nach Castrojeriz habe ich noch zehn vor mir.
»Na, dort kannst du jedenfalls bestimmt WM sehen«, meine ich. »Du stehst doch auf Fußball?«
»¡Si! ¡Si! ¡Claro! Ich bin Fan von Barcelona. Und heute schau ich mir auf jeden Fall an, wie Spanien spielt.«
»Dann war es für dich sicher ein Schlag, als dieses Jahr Inter Barcelona geschlagen hat?«
Ich hatte nicht ahnen können, dass diese einfache Frage bei Marta eine so leidenschaftliche Reaktion auslösen würde. José Mourinho, der Mann hinter Inter Mailands Sieg im Halbfinale der European Champions League im April, war ein rotes Tuch für sie.
»Dieser hijo de puta (Hurensohn), Mourinho!«, zischt sie wütend. »Inter hat gar nicht Fußball gespielt, sondern nur den Bus geparkt.«
»Den Bus geparkt?«, frage ich, verwundert über diese mir unbekannte Metapher.
»Sie parken die gesamte Mannschaft im Strafraum, um uns zu behindern. Ich hasse ihn, ich hasse ihn!«, brüllt sie, während wir mit dampfenden Sohlen auf Castrojeriz zustürmen.
»Du darfst ihn nicht so ernst nehmen«, rate ich ihr. »Ist doch alles bloß Show. ›Ich bin der Größte.‹ Wer weiß, was für ein Mensch er wirklich ist. Wenn du erst mal so alt bist wie ich, kann dich so leicht nichts mehr aufregen.«
Warum erwähne ich jedes Mal, wenn ich mit einem jüngeren Menschen spreche, mein
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