Ich bin da noch mal hin
Alter? Marta hat kein Wort darüber verloren. Angefangen hat es Weihnachten, als ich in Borneo Urlaub machte. Während einer dreitägigen Bootstour auf dem Kinabatangan-Fluss musste ich es mir gefallen lassen, dass mich der Bootsführer bei jeder Gelegenheit »Mutter« nannte.
»Ich bin nicht deine Mutter, Papay«, erinnerte ich ihn jedes Mal, wenn er in Hörweite der anderen Passagiere und aller Wildtiere im Regenwald rief: »He, Mutter, sollen wir hier Halt machen?«, oder: »He, Mutter, siehst du den Affen? Da drüben!«
Papay erklärte mir, es sei ein Zeichen von Respekt, eine ältere Frau »Mutter« zu nennen, aber er hatte das Wesentliche nicht begriffen. Woher wollte er wissen, dass ich alt war? Auf keiner meiner vielen Reisen hatte ich jemals über mein Alter nachgedacht. Doch jetzt, mit einundfünfzig, sorgte Papay dafür, dassich mir sonderbar vorkam, weil ich mich unter junge Leute mischte, die sich zwischen Schule und Uni eine Fernreise gönnten. Sollte ich etwa inzwischen aus dem Alter heraus sein, in dem man mit dem Rucksack loszieht, und stattdessen ein Louis-Vuitton-Rollköfferchen in ein Fünf-Sterne-Hotel ziehen? In »Ich bin dann mal weg« beschreibt Hans Shelagh als die »Mutter«, die unseren Camino 2001 organisierte, und uns beide als ihre ungezogenen Kinder. Das wäre inzwischen nicht mehr denkbar, oder?
Marta merkt mir meine Verlegenheit nicht an. Wir marschieren den Weg zwischen dem Hostal El Manzano und der großartigen Kirche Santa María hinauf – besser gesagt, sie marschiert und ich tripple hinter ihr her.
»¡Hola!«
»¡Hola!«, grüße ich Paco den Älteren und Paco den Jüngeren zurück, die im Garten des hostal Tee trinken, während Chungo, der Labrador, und Kira, der kleine Mischlingshund, zu ihren Füßen im Gras dösen.
Marta und ich bestellen ebenfalls Tee, und ich strahle die Pacos stolz an. Ich wette, sie können kaum glauben, dass ich sie eingeholt habe. Als sie heute Morgen Hontanas verließen, setzte ich mich gerade hin, um mein Croissant zu essen. Klar, vielleicht hingen sie schon seit Stunden hier herum, aber ich habe das Gefühl, in Martas Windschatten in Schallgeschwindigkeit hierher transportiert worden zu sein.
»Wir sprachen gerade über José Mourinho«, erzähle ich. »Was haltet ihr von dem?«
»Er ist Portugiese«, lautet die Antwort.
Die beiden Pacos erheben sich, woraufhin auch Chungo und Kira aufspringen und wie wild im Kreis herum laufen. Die kleine Kira hüpft auf drei Beinen herum, ohne mit ihrer verletzten, bandagierten Pfote den Boden zu berühren. Der Rucksack von Paco dem Jüngeren sieht mit den vielen daran hängenden Utensilien aus wie ein Weihnachtsbaum.
»He, Paco der Jüngere!«, rufe ich, als er sich mit der fröhlich hinter ihm her tollenden Kira auf den Weg durch den Garten macht. »Was ist eigentlich in dem Rucksack drin ?«
»Meine Socken«, antwortet er gedehnt.
»Dann steck doch Kira mit rein, Platz ist genug.«
Marta die Marschiererin, meine Freundin für eine Stunde, springt auf und folgt ihnen. Sie wird heute Abend in Frómista sein. Außer natürlich, die Polizei hält sie wieder auf.
In der Abgeschiedenheit des hostal -Gartens fällt es schwer zu glauben, dass dieses wahrscheinlich von Julius Caesar gegründete Dorf genügend Baudenkmäler aufweist, um zumindest den Rest des Tages gut auszufüllen. Das einzige jedoch, das ich zu besuchen plane, ist die im 18. Jahrhundert auf dem ursprünglichen Bau aus dem 13. Jahrhundert errichtete Kirche María del Manzano. Vor neun Jahren haben Madison und ich diese Kirche auf dem Weg nach San Nicolás besichtigt, und seither wollte ich den bemerkenswerten Eindruck auffrischen. Ich trinke meinen Tee aus und gehe durch den Garten, um an der Kirchentür das Eintrittsgeld von zwei Euro zu entrichten. Während ich durch den enorm großen Raum schreite, bis ich vor Rafael Mengs wunderschönem retablo der Verkündigung direkt neben der Kreuzigungskapelle stehe, erinnere ich mich an den Moment, als Madison und ich 2001 hier standen.
»Wer ist das?«, fragte Madison.
»Wer?«, gab ich zurück und blickte mich suchend um.
»Diese Leute. Wer sind sie alle? Wer ist das in der Mitte?«
Ihrem Blick folgend merkte ich, dass sie die Jungfrau Maria ansah. Sie bat mich, die Mutter Jesu zu identifizieren.
»Du meinst sie ?«, fragte ich. »Das ist die Jungfrau Maria, Madison.«
»Wer ist das?«
Ich wandte mich Madison zu und sah, dass sie es vollkommen ernst meinte. Ihre Unwissenheit war so rein
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