Ich bin da noch mal hin
Hans-Peter Kerkeling, den ich seit Santo Domingo nicht mehr gesehen hatte (und zwar vor allem wegen seiner höheren Ansprüche an Privatsphäre und Hygiene), zwei Tage später hier essen und übernachten würde. Ich ziehe vor ihm meine brasilianische Baseballkappe.
Im ersten Moment erkenne ich Victorinos Bar nicht wieder. Bin ich im gleichen Raum wie damals? Den Wirt kann ich nirgendwo entdecken. Als sich meine Augen an das schummrige Licht gewöhnt haben, nehme ich meine Umgebung besser wahr. Ich bin schockiert. Der damals empfundene Reiz des Neuen von Victorinos Bude geht jetzt in Chaos unter. Auf dem damals bloß klebrigen Tresen türmen sich halb volle Weinflaschen, schwappende Kaffeetassen, graue Lumpen und überquellende Aschenbecher. Eine kleine Teekanne klemmt verkeilt in einer Kaffeemaschine wie ein Opfer des Vulkanausbruchs in Pompeji, das für alle Ewigkeit bei seiner letzten Verrichtung mumifiziert wurde. Um zu der Bank durchzukommen, auf der ich neben Madison gesessen habe, müsste ich über Obst- und Gemüsekisten klettern, die sich auf dem einstmals leeren Fußboden stapeln. Rosafarbene Plastiksäcke voller Schutt, stapelweise Klamotten, ein rostiger Heimtrainer, Werkzeuge und unidentifizierbare Dinge verstellen mir den Weg zu der Gestalt, die ich am anderen Ende des Raums entdecke.
»Victorino?«, sage ich mit Herzklopfen in das Halbdunkel.
»¿Si?«
»Hola.«
Vorsichtig bahne ich mir einen Weg zwischen den Dingen. Ich strecke die Hand aus, und er wischt sich die Rechte an seinem schmuddeligen Hemd ab, bevor er meine schüttelt.
»Hola, Victorino. Sie erinnern sich vielleicht nicht an mich, Sie haben schon so viele Pilger kennengelernt. Ich war vor neun Jahren mit ein paar Freunden hier und wollte jetzt mal vorbeischaun. Wie geht’s?«
»Gut. Gut.«
»Betreiben Sie hier immer noch eine Bar?«, frage ich – sicher die dümmste Frage meines Lebens.
»Nein, nein, nicht mehr. Möchten Sie ein bisschen Obst mitnehmen? Bitte, bedienen Sie sich.«
Ich greife nach einer Nektarine und einer Orange und bemerke dann ein Foto an der Wand, auf dem Victorino Wein über seine Oberlippe schüttet.
»Oh, Victorino, schauen Sie, ich weiß noch, wie Sie uns das vorgeführt haben. ¡Qué chistoso! (Wie lustig!)« Er wirkt erfreut und fragt mich, ob ich einen sello möchte. Der alte Stempel und das Stempelkissen stehen immer noch in einer Ecke des Tresens, und ich stemple mein credencial , während Victorino seine Arbeit im hinteren Teil des Raumes wieder aufnimmt. Ich gehe ihm nach und sehe zu, wie er sich an einen alten hölzernen Handwagen setzt. Er streift einen Lederhandschuh über und zieht immer wieder an Bündeln von Metalldrähten, die aus dem Gehäuse eines undefinierbaren Etwas auf dem Handwagen ragen.
»Was machen Sie da?«, frage ich, erschüttert.
»Das hier rausbringen, um es zu verkaufen. Wenn ich fertig bin, soll ich Sie dann mitnehmen bis zur Straße?«
»Ich bin doch Pilgerin, ich muss den ganzen Weg selbst gehen«, erwidere ich. »Aber wissen Sie was, ich werde irgendwo an der Straße Kaffee trinken, also halten Sie doch, wenn Sie mich sehen.«
Als ich ins Tageslicht hinaustrete, zerrt er immer noch heftig an den Metalldrähten und müht sich mit seinen kurzen Armen und seinem dicklichen Körper mehr ab, als für einen alten Mann gut sein kann. Sollte er nicht besser weiter Kaffee und Spiegeleier servieren, statt sich wegen ein paar Euro für Altmetall abzuplagen? Sein Elend nimmt mich mit, und ich sage nicht viel, als ich draußen vor der nahe gelegenen Herberge El Puntido Paco den Älteren und Paco den Jüngeren antreffe. Chungound Kira äugen unter dem Tisch hervor zu mir herüber. Zwei Frauen, die ich noch nie gesehen habe, sitzen auf einer Bank und plaudern mit amerikanischem Akzent. Gerade, als sie sich alle auf den Weg in die nächste Stadt, Castrojeriz, machen, tuckert Victorino in einem verbeulten weißen Auto vorbei, wahrscheinlich, um seine Drahtausbeute zu verkaufen. Er sieht mich nicht. Ich bin allein und studiere meinen neuesten sello . Das Stempelkissen war so trocken, dass ich die schwach purpurfarbene Kirchenkuppel von Hontanas kaum erkennen kann, aber Victorinos Name steht so trotzig da wie er selbst.
Wie mit Victoria verabredet, hinterlege ich ihren Türschlüssel in der Herberge Santa Brígida am Dorfausgang, dann bin ich wieder auf dem Fußweg durch ein Gerstenfeld. Die Kirchturmuhr hinter mir schlägt neun Mal – sie schilt mich für die volle Stunde, die ich in
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