Ich bin da noch mal hin
Gesicht wechselt von hellrosa zu tiefrot, als er sich umdreht und mit den Frauen redet. Ich schätze die beiden auf ungefähr zweiundfünfzig.
Der Innenhof der Albergue Municipal mit den üppigen weißen und roten Geranien würde auch nach Andalusien passen und wirkt auf Pilger, deren schmerzende Füße den Weg durch den páramo noch nicht ganz bewältigt haben, wie der Garten Eden. Ich schiebe mich vorsichtig an einigen Wanderern vorbei, die darauf warten, von dem äußerst gefragten Fußpfleger behandelt zu werden, und suche mir in einem so gut wie leeren Schlafsaal ein Bett aus. Nachdem ich mir Staub, Schweiß und Weizenspreu abgewaschen habe, gehe ich wieder auf die Straße, wo sich Christian und Sara immer noch mit Birgitte und Gro aus Kopenhagen unterhalten – ihrer »Verabredung«. Sie begrüßen mich herzlich und schätzen zweifellos die Lage einer allein ihres Weges ziehenden Frau richtig ein, denn sie laden mich gleich ein, um acht Uhr mit ihnen zu essen. Dann besichtige ich die Sehenswürdigkeiten von Mansilla, die römischen Wallanlagen, den Wasserturm in Ziegelbauweise samt der dort nistenden Storchenfamilie sowie die friedliche, von Säulengängen umschlossene plaza , die an Verona und »Romeo und Julia« denken lässt.
Beim Abendessen bin ich wie alle anderen am Tisch guter Laune. Dario, mein Lieblingsrömer, ist aufgetaucht, und die Stimmung ist so heiter und ausgelassen wie am Freitagabend in San Nicolás. Die Atmosphäre ist ebenso magisch wie bei Christians Ritual mit dem Wasserkrug und dem Geschirrtuch.
»Was hofft ihr auf dem Camino zu finden?«, frage ich.
»Ich hoffe, mich selbst zu finden«, sagt Birgitte, deren glänzende blaue Augen unter den grauen, kurz geschnittenen Haaren sie viel jünger wirken lassen.
»Und ist dir das gelungen, bei all dem Wandern, Wäsche waschen, Essen und Schlafen, das wir zu erledigen haben?«
»Ich habe festgestellt, dass ich sehr wütend werde, wenn Gro Mandeln kaut, während ich zu schlafen versuche! Ach, und ich habe viele Freunde gewonnen, gemütliche Abende verbracht und jede Menge Wein getrunken!«, lacht sie, ohne sich Gedanken über ihre bislang wenig erfolgreiche Mission zu machen.
»Du Glückliche!«, sage ich darauf. »Ich bin viel allein gewesen. Tagelang habe ich niemanden getroffen.«
»Die Glückliche bist du«, meint Sara mit Nachdruck. »Ich bin niemals allein. Warum habe ich nie einen Augenblick für mich?«
Daraufhin herrscht vollkommene Stille. Wir sehen Sara alle nur an. Die braun gebrannte Italienerin schaut verdutzt, als wir alle gleichzeitig nach Luft schnappen und in Gelächter ausbrechen. Mit Dario in der einen Ecke des Tisches und Sara in der anderen sind wir hübsch eingerahmt von den beiden vielleicht attraktivsten Pilgern des Jahres 2010.
»Wie meinst du das, Birgitte – dich selbst finden?«, frage ich beharrlich weiter.
»Ich meine damit, in Kontakt mit der Natur zu kommen und meinen Geist leer zu machen. Nicht zu denken.«
»Nicht denken? Wie macht man das?«
»Na ja, ich habe viel meditiert, und man kann die Abstände zwischen den Gedanken größer werden lassen, und irgendwann schafft man es immer länger, nicht zu denken.«
»Wozu soll denn das gut sein?«, fordere ich sie heraus. »Ich war heute den ganzen Tag lang total in Kontakt mit der Natur, und ich fand es schrecklich. Wenn mein Geist leer gewesenwäre, hätte ich es nicht mal gemerkt. Ich folgte dem Rat einer Nonne in Sahagún, die mir geraten hat, in mich hineinzuhorchen, was mein Bedürfnis ist. Mein Bedürfnis war zu fliehen. Und schau, was passiert ist! Ich habe Sara und Christian getroffen, und jetzt bin ich ein anderer Mensch!«
»Für mich ist der Camino eine Wanderung auf den Traumpfaden, wie sie die australischen Aborigines unternehmen. Ich lasse mein Zuhause hinter mir, aber mit dem festen Vorsatz, zurückzukehren«, erklärt Gro abschließend mit einem präraffaelitischen Lächeln.
Für Birgitte und Gro, die von León aus nach Dänemark zurückfahren, ist die Heimat nicht mehr fern. In León werden wir alle morgen sein, aber auf einige von uns wartet noch Santiago – also zwei Wochen oder dreihundertdreißig Kilometer. Und unser Zuhause liegt in noch weiterer Ferne.
Jetzt weiß ich, wozu Tage wie dieser gut sind. Sie sind die Flauten des Lebens: die unvermeidlichen Tage der Stille, an denen nichts zu geschehen und nichts voranzugehen scheint. Es mag unwahrscheinlich anmuten, doch wenn unsere Richtung stimmt und wir nicht verzagen, werden
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