Ich bin da noch mal hin
entwickeltes Mitgefühl mit der Menschheit handelt. Und weil meine Art, die Dinge zu sehen, ebenfalls von dem bestimmt ist, was ich weiß und glaube, schließe ich daraus, dass meine glaubensfeste Gesprächspartnerin nicht von Gott durchdrungen ist, sondern von ihrem eigenen, bewundernswerten Wesen.
»Kennen Sie Beispiele von Menschen, denen der Camino im Leben geholfen hat?«, frage ich.
»Ja. Eines Abends nach dem Abendgebet kam eine Frau weinend zu mir. Sie dankte mir, ohne dass ich wusste wofür. Dann erzählte sie mir, sie habe den Glauben an ihre Ehe verloren und beschlossen, sich scheiden zu lassen. Doch hier, in Sahagún, habe sie die Antwort gefunden, nach der sie suchte. Sie brauchte nicht mehr nach Santiago zu gehen. Ihre Pilgerreise war zu Ende. Sie fuhr nach Hause, um ihre Ehe zu retten.«
Ich mache wohl ein zynisches Gesicht, denn schnell übersetzt sie die Geschichte in eine universelle Botschaft.
»Auf dem Camino darf man nicht müde werden, nach dem zu suchen, was einem fehlt. Man muss auf seinen Körper hören und in sich hineinhorchen, was man braucht.«
Auf diesen nützlichen Rat hin stelle ich die gleiche Frage, die den Priester in Navarrete zum Schweigen gebracht hat.
»Glauben Sie, dass der heilige Jakob in Santiago bestattet ist? Oder ist das bloß eine Legende?«
»Ja, es ist tatsächlich eine Legende, aber irgendetwas ist dort, etwas Spirituelles. Warum sonst pilgern die Menschen seit Jahrhunderten dort hin? Zwei japanische Pilger erzählten mir einmal, sie wollten nach ihrem Besuch in Santiago in Fisterra ihre Kleider verbrennen, aber das hat nichts mit der Pilgerreise zu tun! Viele Pilger kommen einfach als Touristen!«
Ich nicke verächtlich, insgeheim froh, nicht auf die Idee gekommen zu sein, in Fisterra mein Barcelona-T-Shirt zu verbrennen.
»Entschuldigen Sie! Ich habe Sie gar nicht nach Ihrem Namen gefragt!«
»María Anunciación. ¿Y Usted?«
» Ana . Anne.«
»Sind Sie getauft, Ana?«
»Ja. Meine Eltern haben mich in der anglikanischen Kirche taufen lassen und auf eine anglikanische Schule geschickt. Ich bin christlich erzogen, habe aber meinen Glauben während des Studiums verloren.«
Schwester María Anunciación ignoriert meinen Atheismus und fragt mich, ob ich einmal das Evangelium gelesen hätte. Ich bejahe, verspreche aber, die Lektüre zu wiederholen. Was immer ich ihrer Meinung nach darin finden soll, sicher wird es sich mir beim zweiten Lesen enthüllen.
Wir umarmen uns und drücken unsere Wangen aneinander, worauf jede durch ihre Tür den Raum verlässt. Ich werde nie vergessen, wie erleichtert Schwester María Anunciación wirkte, als ich ihr sagte, ich sei getauft. Gott sei Dank haben meine Eltern wenigstens das richtig gemacht.
Donnerstag, 1. Juli 2010
Ich wandere 22 Kilometer von Calzadilla de los Hermanillos nach Mansilla de las Mulas
Die alte Puente de Canto über den Fluss Cea in Sahagún markiert das Ende der Tierra de Campos, nicht aber, wie ich jetzt weiß, das Ende des páramo . Ich bin gestern um 8 Uhr 30 über diese Brücke gegangen und jetzt hier, dreißig Kilometer weiter, immer noch von Getreidefeldern umgeben. Lynn, Steve, Cathy und Hilary waren klug genug gewesen, sich diese trostlose Ebene durch die Fenster des Busses von Carrión de los Condes nach León aus anzusehen. Hans hatte hinter Carrión siebenunddreißig Kilometer durchgehalten, um dann in Sahagún dem páramo den Rücken zu kehren und mit dem Zug nach León zu fahren. Seit ich am Montagmorgen in Carrión losgegangen bin, habe ich so wenig von anderen Pilgern gesehen, dass ich mir inzwischen wie der letzte Mensch auf Erden vorkomme.
Trotz der endlosen Weite um mich her fühle ich mich irgendwie eingesperrt. Wo lag der Fehler, der mich in diese Einsamkeit geführt hat? Gestern habe ich nach einer Wegstundedrei Kilometer hinter Sahagún in der Bar Estebuca in Calzada del Coto Frühstückspause gemacht, gegenüber der verschlossenen Kirche, einen Traktor im Blick. Vergnügt habe ich Lozanos Vorschläge und die beschriebenen Optionen studiert, dabei aber nicht zwischen den Zeilen gelesen, die Konsequenzen des von mir gewählten Wegs also nicht vorausgesehen. Nach Mansilla de las Mulas gab es zwei Routen, und die Beschreibung der römischen Via Traiana schmeichelte meiner Eitelkeit. Sie sei »authentischer« als die Alternative, der Real Camino Francés, ein »planierter Weg … inmitten einer herrlichen Platanenchaussee«, eine »bequeme, funktionelle Straße«. Nein, so einen
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