Ich Bin Dann Mal Weg: Meine Reise Auf Dem Jakobsweg
Warnung ausgesprochen, was den Abstieg nach Zurbiri betrifft, er ist angeblich steil, sehr steil und nichts für Greenhorns. Da vor mir zwei deutsche Omas laufen, denke ich: Wenn die das schaffen, schaffe ich das auch. Ich bin halt simpel gestrickt.
Als ich die beiden dann kurz vor der Passhöhe einhole, halten sie sich vor Schmerzen stöhnend ihre Knie. Die paar Menschen, denen ich im Laufe des Tages noch begegne, ein mittelalter Holländer und eine durchtrainierte Französin, haben übrigens auch Knieschmerzen.
Ja, und so ist auch dieser Abstieg von weiteren zweieinhalb Stunden die reinste Wanderhölle! Schönes Wetter hin, schönes Wetter her. Der Weg nach unten durch den Wald hat’s faustdick hinter den Blättern. Ich knicke sechsmal um. Das sechste Mal so heftig, dass ich mir sicher bin, nicht ohne einen Bänderriss davonzukommen. Ohne den Pilgerstab geht hier gar nichts mehr, es sei denn im Sturzflug. Ich kann meine Knie kaum noch beugen. Eine einzige Quälerei! Ein Weg ist nicht mehr zu erkennen, alles sieht eher aus wie eine Art Schlucht durch das wilde Kurdistan. Mittlerweile bezweifle ich, dass es sich hierbei noch um den offiziellen Pilgerpfad handelt. Das ist doch eher ein ausgetrockneter Wasserfall. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als die Kletterei als Meditation zu nehmen. Immer nur auf den nächsten Schritt konzentrieren und bloß nicht weiter vorausschauen.
Solange ich noch ebenen Weges gehe, darf ich mir über den bevorstehenden Abstieg lieber keine Gedanken machen, sonst knalle ich auf dem ebenen Weg schon auf die Fresse!
Sich umzudrehen während des Laufens kann auf diesen Matschwegen, die gespickt sind mit wuchtigen Findlingen, halsbrecherisch sein. Während es vorangeht, also nicht umdrehen! Nur nach vorne schauen. Wenn man sich umdrehen will, kurz stehen bleiben, innehalten.
Ich lerne meinen Körper hier wirklich kennen und ich muss sagen, der macht schon – in zweierlei Hinsicht – eine ganze Menge mit. Wenn ich ihn nicht mit Gewalt zwinge, sondern auf ihn einrede wie auf ein krankes Pferd, und es langsam angehe, spielt er mit. So schaffe ich auch Zubiri wider Erwarten in einem Stück. Den Ort erreicht man über eine mittelalterliche Pilgerbrücke über den Rio Aga, die im Volksmund anheimelnderweise puente de la rabia , Brücke der Tollwut, heißt.
Bei meiner Ankunft an der Pilgerherberge werde ich musikalisch begrüßt durch die Vier-Mann-Kapelle aus Idaho. Sie hocken direkt unter der überladenen Wäschespinne auf dem Spielplatz. Frage mich wirklich, wozu eine Pilgerherberge einen Spielplatz braucht. Diese Strecke zu Fuß mit Kleinkindern zu bewältigen ist absolut undenkbar. Die Beschreibung des refugio lasse ich weg. Nur so viel, ich übernachte an diesem Ort wieder in einem netten, kleinen Hotel. Die Chefin ist praktischerweise die Cousine der Apothekerin, so werde ich umgehend mit Sportgel und elastischen Knieschonern versorgt. Wie der Zufall es will, habe ich heute ein Zimmer im dritten Stock, ohne Fahrstuhl. Irgendwer will mich offensichtlich gezielt kleinkriegen. Ich hoffe, ich kann morgen weiterlaufen nach Pamplona.
Heute Abend werde ich wieder Calamares in der eigenen Tinte essen. Sensationell! Sieht zwar etwas ekelig aus, aber das scheint hier das Nationalgericht zu sein, obwohl das Meer ein paar hundert Kilometer weit weg ist. Aber wenn ich in Badelatschen wandere, können die auch Tintenfische essen.
Erkenntnis des Tages:
Weiter! Nicht umdrehen!
12. Juni 2001 – Pamplona
Es war abzusehen: Nichts geht mehr, am wenigsten meine Beine. Gestern Nacht einzuschlafen war fast unmöglich, so sehr hat alles geschmerzt. Heute Morgen um neun Uhr versuche ich also aufzustehen und beide Beine von der Sohle bis rauf zum Oberschenkel sind steif und fast taub. Alles tut weh: die Sohlen, die Fersen, die Knie, die Schienbeine, die Muskeln.
Dennoch schaffe ich es, mich zum Frühstück ins Erdgeschoss zu hangeln.
Als ich mein Spiegelbild im Hotelflur betrachte, sehe ich schon deutlich weniger Speck, obwohl ich so viel futtere wie im Leben noch nicht.
Nach dem Frühstück schnüre ich mein schweres Bündel und ziehe los. Ich versuche tapfer den Pilgerweg weiterzugehen, welcher gleich mit einem herrlich steilen Anstieg aufwartet. Nach etwa einem Kilometer reicht es mir, es ist Schluss mit lustig!
Mein Körper braucht einen Ruhetag und zwar am besten gleich im dreißig Kilometer entfernten Pamplona. Eine Zugoder Busverbindung dorthin gibt es nicht und so werde ich heute
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