Ich Bin Dann Mal Weg: Meine Reise Auf Dem Jakobsweg
Erde auf den Wegen und Äckern rund um das wuchtige Kloster ist matschig. Ich kann jedes Detail des kalt feuchten grauen Klosters erkennen. Außer mir leben dort noch sechs Mitbrüder und ein Abt.
Während ich mich deutlich erkenne und obwohl mir sogar Namen entgegengeflogen kommen, nehme ich die anderen zwar als charakterstarke Individuen wahr, trotzdem bleiben sie vage und verschwommen, wie gesichtslos. Die ganze Klosteranlage ist mir erschreckend vertraut und ich finde mich dort ohne Probleme zurecht. Eine Nonne kommt auf einem klapprigen Fahrrad über einen Hohlweg aus der Stadt und bringt uns wie jeden Tag Essensreste aus den Krankenhäusern der Umgebung, von denen wir kärglich leben.
In der Kapelle sehe ich die Mitbrüder und mich während der Messe. Alles ist so, als wäre ich hier vollkommen zu Hause.
Plötzlich sehe ich mich im Arbeitszimmer des Abtes, während ich gleichzeitig auf dem Teppich der Doppelhaushälfte in Frankfurt liege, und höre mich laut zum Abt und Carsten sagen: »Der Kohlenhändler wird heute kommen. Ich werde ihn in den Keller begleiten.« Eine unsagbare Angst, ein Gefühl der totalen Vernichtung steigt in mir hoch. Als Nächstes begleite ich den Kohlenhändler, der eine Schubkarre mit Kohlen vor sich her schiebt, über eine Rampe in den kalkweißen Keller.
Mein Herz schlägt tatsächlich bis zum Hals und mir bleibt auf dem Teppich in Frankfurt die Luft weg.
Und während der Mann im Keller ablädt, weiche ich nicht einen Meter von seiner Seite. Meine Aufgabe ist es, ihn während der ganzen Zeit zu beaufsichtigen und abzulenken, denn hinter einem mannshohen Haufen von Rüben halten wir eine vierköpfige jüdische Familie versteckt.
Ein junges Ehepaar mit zwei kleinen Kindern – einem Jungen und einem Mädchen. Mein Blick geht ständig in ihre Richtung und ich bete zu Gott, dass der Kohlenhändler nichts merkt! Mich durchfährt eine unbeschreibliche Angst.
Er liefert die Kohlen ab und verschwindet wieder.
Das Versteck ist gefährlich und wir alle haben schreck liche Angst, auch nur eine einzige falsche Bewegung zu machen.
Dann sehe ich mich bei geöffnetem Fenster schreiend vor Angst in meiner Zelle sitzen. Es muss frühmorgens sein und ich höre zwei LKWs über den Hohlweg poltern. Uniformierte Deutsche springen von den Autos und stürmen in das Kloster. Ich werde von zwei Soldaten aus meiner Zelle geschleppt und vor die hintere äußere Klostermauer zu meinen dort bereits versammelten Mitbrüdern gestellt.
Die verzweifelte, in Tränen aufgelöste Familie wird auf einen LKW gedrängt. Man transportiert sie ab.
Irgendjemand in Uniform verliest in deutscher Sprache unser Todesurteil. Der Abt und die Mitbrüder bleiben ruhig, aber in mir steigt unsagbare Angst auf.
Ich weiß, dass ich hier auf einem Teppich im Frankfurt der Jahrtausendwende liege, aber mein ganzer Körper zittert und selbst wenn ich die Augen öffne, komme ich aus dieser Geschichte nicht raus. Carsten und Carina beruhigen mich, aber das nützt nichts.
Der Abt teilt dem Offizier mit, dass wir auf Augenbinden verzichten, was uns gewährt wird. Dann stimmt der Prior einen lateinischen Choral an, in den alle außer mir einfallen. »Der Herr ist mein Hirte.«
Die Gewehre werden geladen, die Soldaten legen auf uns an und ich bebe. Meine Knie zittern und mein Rücken wird eiskalt! Ich glaube nicht mehr an Gott! Ich habe meinen Glauben verloren! Ich sage laut: »Ich will nicht sterben!« Einer meiner Mitbrüder brüllt mich an: »Johannes, wir gehen den Weg des Herrn. Unser Weg ist zu Ende.« Ich zittere wie Espenlaub. Mein Körper bebt, ich kann ihn gar nicht mehr ruhig halten. In Frankfurt drückt Carina mich auf den Boden. Ich bin außerstande, mich zu beruhigen.
Es knallt. Ich bin erschossen worden. Es ging ganz schnell und nun bin ich tot. Und zittere als ein Licht irgendwo im Raum. Die anderen sieben Funken drehen sich immer schneller, entfernen sich von mir und verschwinden. Mir gelingt das nicht. Drei nicht beschreibbare diffuse Lichtgestalten kommen mir entgegen und beruhigen mich und eine von ihnen sagt: »Ein ganzes Leben hast du ohne Zweifel geglaubt, warum nicht in diesem einen Moment? Warum nicht?«
Auf meinem Zettel mit den Orten, die man unerklärlicherweise nicht besonders mag, stand nur ein Wort: Polen.
Dabei war ich, zumindest bis zum damaligen Zeitpunkt, noch nie dort gewesen. Irgendwann werde ich mal nach Breslau fahren und schauen, was da dann so mit mir los ist. Aber heute geht’s erst
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