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Ich Bin Dann Mal Weg: Meine Reise Auf Dem Jakobsweg

Ich Bin Dann Mal Weg: Meine Reise Auf Dem Jakobsweg

Titel: Ich Bin Dann Mal Weg: Meine Reise Auf Dem Jakobsweg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hape Kerkeling
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Rollos heruntergelassen. Falls es ein Feuerwerk gegeben hat, ich hab’s mal wieder verpasst!
    Da ich nicht mehr einschlafen kann, drängt sich mir ein Erlebnis förmlich ins Bewusstsein zurück, das ich fast erfolgreich verdrängt hatte.
    Wegen einer Vergiftung hatte ich einmal das zweifelhafte Vergnügen, an die Schwelle des Ablebens zu treten. Was ich dabei empfunden habe, setzt sich vor meinem geistigen Auge mosaikartig wieder zusammen.
    Die Panik vor dem Tod war das Allerschlimmste. Diese Panik frisst einen Menschen förmlich auf. Aber wenn’s dann wirklich auf das Ende zugeht – ein Arzt hat mich kurz vor Toresschluss wieder zurückgeholt –, ist es anders.
    Man wird ganz friedlich und ordnet in aller Ruhe die eigenen Gedanken. Da geht es zum Teil um völlig banale Dinge, die aber im Sterbeprozess unglaubliche Wichtigkeit bekommen. Vor allem geht es aber um die Frage: Was tue ich anderen und was tun andere mir! Tiere übrigens eingeschlossen.
    Wenn man kaum noch ansprechbar ist, wird es dann bizarr. Man nimmt alles scharf und klar wahr und ist gleichzeitig benommen. Man fängt an, sich nach außen aufzublähen, während man in sich immer kleiner und konzentrierter wird. Man fällt langsam in sich zusammen und gleichzeitig aus sich heraus. Kurz vor dem Kollaps tut sich eine Art Tor oder Öffnung auf, zwar nur so groß wie ein Nadelöhr, aber mit dem Volumen eines schwarzen Loches. Und dann ist es nur noch ein Schritt. Es ist der banalste Moment des Lebens und gleichzeitig der feierlichste.
    Ich kann nur versuchen, es zu beschreiben. Es ist in etwa so ein Gefühl, als würde man mit einem Plöpp-Geräusch eine Bierflasche öffnen und dazu die Berliner Symphoniker in doppelter Besetzung die 9. Sinfonie von Beethoven spielen lassen. Banal und feierlich zugleich.
    Als »Nahtoderlebnis« würde ich diese Erfahrung nicht einstufen. Ich war nicht auf einer fremden, anderen Seite. Ich bin nur in die Nähe einer Schwelle gekommen. Ich bin nie durch ein Tor gegangen und habe auch kein Licht gesehen.
    Habe heute Morgen zwar bis neun Uhr mehr schlecht als recht geschlafen, bin aber dennoch todmüde und kaputt. In der Nacht blieb zwar alles harmlos, aber es gab einiges Getöse. Bei der bereits aufsteigenden Hitze ist an Laufen nicht mehr zu denken. Also denke ich praktisch und überspringe wieder einmal zwei Etappen, indem ich den Zug nach León nehme. Dort mache ich dann zwei Tage Pause. Mal sehen, was die letzte große Stadt vor Santiago so bringt.
    Es tut mir in der Seele weh, heute nicht laufen zu können, aber meine mentale und körperliche Fitness lassen das nicht zu und ich will ja vor allem die letzten einhundert Kilometer komplett zu Fuß schaffen, damit mein Weg als gepilgert anerkannt wird. Lara ist wahrscheinlich schon wieder auf dem Weg und durch mein Etappenhopping werde ich sie nicht mehr wiedersehen, aber ich hab ja ihre E-Mail-Adresse.
    Schnabbel, Gerd und die Österreicherin bin ich jetzt wohl definitiv los. Heute ist Sonntag. Da wird meine Österreicherin aber traurig sein: die G’schäfterl haben alle geschlossen.
    Am Bahnhof stelle ich fest, dass mir bis zur Abfahrt des Zuges nach León noch anderthalb Stunden Zeit bleiben.
    Da ich keine Lust verspüre, noch etwas zu unternehmen, setze ich mich auf den menschenleeren Bahnsteig und schaue auf ein Mosaik mit der Aufschrift Sahagún, das ich aus Langeweile fotografiere. Sahagún! Was dieser komische, arabisch klingende Name wohl bedeutet?
    Danach packe ich mein Tagebuch aus und mache Notizen. Ich frage mich, warum ich das hier eigentlich alles aufschreibe? Für mich? Ob irgendwann jemand anderer diese Notizen liest?
    Vielleicht ist es Eitelkeit, aber unwillkürlich habe ich das Gefühl, ein Buch zu schreiben, das seiner Veröffentlichung entgegenfiebert. Dabei hatte ich nie die Ambition, Bücher zu schreiben, und trotzdem halte ich akribisch alles fest, so als müsste ich es tun, und meine Einträge werden immer sorgfältiger. Von mir würde man doch – wenn überhaupt – ein Buch zu einem ganz anderen Thema erwarten. Aber vielleicht ist ja gerade das besonders spannend?
    Die meisten Menschen gehen diesen Weg im Übrigen wegen der Bücher von Shirley MacLaine und Paulo Coelho. Egal was man über ihre Bücher denken mag; es ist unglaublich, wie viele Menschen sie dadurch auf diesen Weg gebracht haben. Sie waren wie Steigbügel.
    Das Erstaunlichste ist, dass alle Menschen, denen ich bisher auf der Reise begegnet bin, nicht den geringsten Zweifel

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