Ich bin dein, du bist mein
komplett raus. Und wenn du das Gefühl hast, dass ich mich im Hause Schramm nicht anständig benehme, erwarte ich, dass du mir das sagst. Okay?«
Bevor Judith antworten konnte, klingelte es an der Tür. »Ich muss los!« Sie sprang auf und trank hastig einen letzten Schluck Kaffee. Im Flur nahm sie ihren schwarzen Jethelm von der Garderobe und schnappte sich den Rucksack, der in der Ecke lag. Draußen hörte sie Stimmen, und gerade als sie die Tür öffnen wollte, wurde sie aufgeschlossen.
Kim stand vor der Schwelle und unterhielt sich mit Judiths Mutter, die ganz jung aussah in ihrem leichten roten Sommerkleid. Mit den roten Korkenzieherlocken und der schmalen Figur hätten Judith und ihre Mutter gut als Schwerstern durchgehen können. Zudem hatte Marion ihre Tochter mit siebzehn bekommen, war also viel jünger als die Mütter von Judiths Klassenkameradinnen.
»Wir können los«, sagte Judith zu Kim, quetschte sich an ihrer Mutter vorbei und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Zerberus sprang schwanzwedelnd an ihr hoch.
»Eigentlich hättest du heute mit ihm rausgemusst«, sagte Marion leicht tadelnd.
»Ich weiß«, sagte Judith und kraulte ihren Hund hinter den Ohren. Genießerisch legte er den Kopf zur Seite und schloss die Augen. »Heute Abend, mein Süßer, okay? Dann machen wir einen Ausflug!« Sie musste noch ihr Fahrrad im Schwimmbad abholen und Bogdan das Taxigeld zurückgeben.
Kim schwang sich auf den Roller und Judith setzte sich auf den Sozius. »Er ist nett«, sagte sie zu ihrer Mutter und zurrte den Helm unter dem Kinn fest. »Robert, mein ich. Ziemlich in Ordnung.«
Marion lächelte, machte aber gleich darauf ein misstrauisches Gesicht. »Worüber habt ihr denn geredet?«, fragte sie. »Komm, raus mit der Sprache.«
Judith beugte sich zu ihrer Mutter und gab ihr noch einen Kuss. Dann gab sie Kim mit der flachen Hand einen Klaps auf den Helm.
Kim seufzte. »Auf Wiedersehen, Frau Schramm.« Sie betätigte den Kickstarter und schon fuhr der Roller mit einem Lärm wie von einer frisierten Kreissäge davon.
Die Wochen vor den Sommerferien hatten sich, so kurz vor der Zielgeraden zum Abschlussjahr, irgendwie merkwürdig angefühlt. Für jemanden mit dem Abitur vor Augen wirkten die Frischlinge der fünften Klasse mit ihren bunten Scout-Ranzen wie Zwerge von einem anderen Stern. Judith konnte sich noch genau an ihren ersten Tag an der Wöhler-Schule erinnern. Wie stolz war sie gewesen, das Kinderbiotop der Cusanus-Grundschule hinter sich zu lassen. Damals hatte sie sich unglaublich erwachsen gefühlt. Umso mehr hatte es sie geschockt, dass sie wieder als letztes Glied in der Nahrungskette hatte anfangen müssen, also bei null.
Acht Jahre hatte sie hier verbracht oder vielmehr gelitten und nun war ein Ende in Sicht. Alles hatte sich den Abschlussprüfungen unterzuordnen. Es war wie auf den letzten Metern beim Iron Man, auf denen der Läufer hofft, dass ihn die zweite Luft über die Ziellinie trägt. Wenn Judith sich keinen größeren Patzer leistete, würdendie letzten Prüfungen zumindest nicht so eine Qual werden wie bei vielen anderen.
Kims Freund Niels, der außer in Sport in allen Fächern grandios zu scheitern drohte, war so ein Kandidat. Er hatte das Privileg, seine Entschuldigungen selbst unterschreiben zu dürfen, bis über alle Schmerzgrenzen zu seinen Gunsten ausgelegt. Wie er und Kim, die eine wahre Lernsoldatin war, überhaupt zusammengefunden hatten, war für Judith bis heute ein Rätsel.
Kim steuerte den Roller an den Straßenrand vor der Schule, wo ein paar Oberstufenschüler hastig eine letzte Zigarette vor Unterrichtsbeginn rauchten. Judith zog den Helm ab und fuhr sich mit der Hand durch das dichte rote Haar. Kein Wind bewegte das blassgrüne Blattwerk der ausladenden Buchen vor dem Tor. Das Gras war so dürr und staubig, dass sich kaum jemand in den Schatten der Bäume setzen wollte.
Je näher Kim und Judith der Schule kamen, desto nervöser wurde Judith. Sie wollte Jan nicht sehen. Aber das war unvermeidlich, denn sie waren beide im selben Jahrgang und teilten einige Kurse miteinander. Ein Glück, dass Zoey erst in die Elfte ging.
Kim schien Judiths Gedanken zu lesen und blickte sie mitleidig an. Doch Judith wollte kein Mitleid. Von niemandem. Auch nicht von ihrer besten Freundin.
Kim schloss den Roller ab und gemeinsam gingen sie über das plattgetretene Gras zum Haupteingang, wo ein riesiges Gedränge herrschte.
Im Inneren des Schulgebäudes, das den Waschbeton-Charme
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