Judith warf den Rucksack auf die Treppe und ging in die Küche, die wie immer makellos aufgeräumt und sauber war. Auf dem Tisch lag ein handgeschriebener Zettel: »Mittagessen im Kühlschrank. Muss nur noch in die Mikrowelle. XXX Mama«.
Sie öffnete den Kühlschrank und holte eine angebrochene Flasche Wasser heraus, die sie in wenigen Zügen lehrte. Doch statt der Plastikdose mit dem Couscous vom Vortag nahm sie einen Becher Joghurt. Der braune Umschlag mit den Fotos steckte noch immer zwischen den Kochbüchern. Sie zog ihn hervor und setzte sich an den Küchentisch.
Vier Bilder, schwarz-weiß. Unmöglich auszumachen, in welcher Reihenfolge sie geschossen worden waren. Jan und Zoey auf einer Wiese am Mainufer. Jan lag auf dem Rücken, Zoey von links über ihn gebeugt. Sie hatte sich das lange blonde Haar hinters Ohr geklemmt und eines ihrer langen Beine über seinen Oberschenkel gelegt, während Jan, ganz der Genießer, mit verschränkten Armen hinter dem Kopf dalag und liebesblöd zu ihr aufschaute. Die anderen Bilder zeigten die beiden eng umschlungen beim Küssen, wobei die Gesichter natürlich nicht mehr sogut zu erkennen waren. Im Hintergrund offenbar belustigte Fußgänger. Was für eine billige Show, dachte Judith bitter.
Die Fotos mussten von einer erhöhten Stelle aus aufgenommen worden sein, vermutlich einer Mainbrücke. Judith kannte sich nicht besonders gut mit Fotografie aus, vermutete aber, dass keine Digitalkamera benutzt worden war. Bei den Bildern handelte es sich um altmodische, selbst entwickelte Abzüge. Das Papier war nicht glatt, sondern von der Entwicklerflüssigkeit ein wenig gewellt. Judith sah genauer hin. Auf die Entfernung konnte man eigentlich nur mit einem Teleobjektiv anständige Bilder machen.
Also war die ganze Session vorbereitet gewesen. Und zwar gründlich.
Judith kratzte den Mangojoghurt mit dem kleinen Löffel aus, warf den Becher in den Müll und begab sich hoch in ihr Zimmer, wo sie sich auf das ungemachte Bett fallen ließ. Sie war müde. Normalerweise legte sie sich immer am Nachmittag für eine Stunde hin, hörte Musik oder las. Aber heute hatte sie nicht die Energie dazu.
Eigentlich hätte sie ins Schwimmbad gemusst, ihr Fahrrad holen und Bogdan die zwanzig Euro zurückgeben. Eigentlich.
Judith rieb sich die Augen und drückte das Kopfkissen in Form. Von draußen wehte gedämpfter Verkehrslärmherein, Vogelgezwitscher. Am liebsten hätte sie jetzt geschlafen, nur zehn Minuten. Oder zwanzig. Aber es war zu heiß dafür.
Sie seufzte, stand auf und schaltete den Rechner ein. Nur drei neue Mails. Keine hatte Jans Adresse als Absender. Zwei davon waren Werbung von ihrem Provider. Die dritte war von diesem Gabriel, dem sie angeblich über eBay ein Buch verkauft hatte. Sie war schon kurz davor gewesen, die Nachricht einfach in den Papierkorb zu schieben, als sie schließlich doch zweimal auf den ungeöffneten Briefumschlag klickte.
Von:
[email protected] An:
[email protected] Betr.: Gebot 954852023178
Meine liebe Gwendolyn,
ich wage es kaum zu sagen, doch irgendwie bringst du mich in eine blöde Situation. Mein Welpe wird nicht stubenrein. Vielleicht liegt es auch daran, dass es mein erster Canis lupus familiaris ist und ich deswegen auf verlorenem Posten stehe. Natürlich könnte ich mich auch im Laden um die Ecke mit der entsprechenden Literatur versorgen, aber ich sehe das nicht ein. Ich habe das Buchvon dir ersteigert und erwarte eine Lieferung. In solchen Dingen hab ich meinen Stolz.
Liebe Grüße
Gabriel
Im Anhang war ein Foto, das keinen Namen, aber einen Zeitstempel hatte. Das Bild war keinen Tag alt und es zeigte einen winzigen Beagle, dessen Blick selbst die hartgesottenste Natur erweichen musste. Neben dem betroffen dreinblickenden Welpen war ein Mehrfachstecker zu sehen, der in einer Pfütze lag und vor sich hin rauchte.
»Ach Herrje …«, murmelte Judith. Sie konnte sich noch gut an die Zeit erinnern, als Zerberus auch noch nicht stubenrein war. Mehrmals am Tag hatte sie mit einem Lappen hinter ihm herwischen müssen.
Von:
[email protected] An:
[email protected] Betr.: Gebot 954852023178
Lieber Gabriel,
ganz offensichtlich bin ich nicht die Gwendolyn, von der dudieses Buch ersteigert hast. Mein Nick wird mit i geschrieben, nicht mit y. Tut mir leid.
Liebe Grüße
Judith
PS: Ein süßer Hund. Wir haben auch so einen, nur ist er schon ein wenig älter.
Sie drückte auf »Senden« und surfte noch ein wenig herum, als sich kurz darauf