Ich bin dein, du bist mein
Beamtin verzog keine Miene.
Judith kaute auf ihrer Unterlippe herum und räusperte sich. »Kann ich ihn besuchen?«
»Sie müssen beim zuständigen Staatsanwalt einen Besuchsschein beantragen«, sagte der Polizist und setzte seineLesebrille ab. »Aber in Ihrem Fall dürfte dieser Antrag nicht genehmigt werden. Sie sind eine wichtige Zeugin.«
Judith nickte nachdenklich. »War auch nur eine Frage.«
Die beiden Polizisten standen auf und gaben ihr die Hand. Die Frau lächelte. »Wenn wir noch Fragen haben, melden wir uns.«
»Ja, und bis dahin darf ich die Stadt nicht verlassen«, murmelte Judith.
»Bitte?«, fragte die Beamtin.
»Sagt man das nicht so in einem Krimi?« Judith machte eine wegwerfende Handbewegung. »Vergessen Sie es einfach, okay?«
Nach dem Albtraum der letzten vierundzwanzig Stunden sehnte sich Judith nach Ablenkung. Sie startete Skype. Gabriel war zu ihrer Erleichterung online.
Judith: Hallo Gabriel, wie war dein Tag?
Gabriel: Durchwachsen.
Judith: Ärger mit der Arbeit? Oder mit von Richthofen?
Gabriel: Mit der Arbeit. Nein, eigentlich nicht mit der Arbeit, sondern mit einem Kunden.
Judith: Ist das nicht dasselbe?
Gabriel: Überhaupt nicht! Meine Arbeit ist immer noch das Wichtigste in meinem Leben. Sie macht mir Spaß. Nur auf diese bescheuerten Krämerseelen kann ich verzichten.
Judith: Aber nicht auf ihr Geld.
Gabriel: Erwischt. Ich bekenne mich schuldig im Sinne der Anklage. Wie sieht es denn bei dir aus? Was macht der Zitronensäurezyklus?«
Judith: Gestern ist mein Exfreund verhaftet worden. Er soll seine neue Freundin umgebracht haben.
Gabriel ließ einen Moment mit der Antwort auf sich warten.
Gabriel: Der Fall aus der Zeitung?
Judith: Genau.
Gabriel: Grauenhaft.
Judith: Kann man wohl so sagen.
Wieder gab es eine kleine Verzögerung.
Gabriel: Wie fühlst du dich?
Judith: Na, dreimal darfst du raten.
Gabriel: Hast du jemanden zum Reden?
Judith: Meine Mutter und ihren Freund. Und meine beste Freundin.
Gabriel: Das scheint dir aber nicht zu helfen.
Judith: Wenn ich ehrlich sein soll, nein. Ich würde am liebsten mit jemandem sprechen, der mit alldem nichts zu tun hat. Der mich nicht kennt. Und der Jan nicht kennt.
Gabriel schwieg. Judith fühlte sich ermuntert.
Judith: Wollen wir uns sehen? Aber ich warne dich: Das wird kein lustiges Date.
Gabriel: Ich würde mich gerne mit dir treffen. Wann?
Judith: Ich weiß, es ist ein wenig knapp. Aber am besten wär’s heute noch.
Gabriel: Kein Problem. Ich freu mich. Wo?
Judith: Café Metropol am Dom. Ist das in Ordnung für dich?
Gabriel: Ja, kenne ich. Uhrzeit?
Judith: So um sechs? Würde dir das passen?
Gabriel: Perfekt. Wie erkenne ich dich?
Judith: Mein rotes Haar ist nicht zu übersehen. Und du?
Gabriel: Sehr kurze Haare, schwarze Brille. Ich trage ein T-Shirt, auf dem Infocom steht.
Judith: Dann sehen wir uns nachher.
Gabriel: Ich freu mich.
Judith: Ich mich auch.
Sie ging offline. Einen Augenblick lang verharrte sein Blick wie hypnotisiert auf dem Display seines Notebooks. Er ballte die Faust und stieß einen unterdrückten Freudenschrei aus. Es war jetzt kurz nach vier. Mit dem Auto benötigte er eine gute Dreiviertelstunde, vielleicht etwas länger. Es kam darauf an, wie dicht der Verkehr in der Stadt war.
Duschen war wichtig. Er wollte gut riechen, wenn er ihr das erste Mal in aller Öffentlichkeit gegenübersaß. Es sollte der perfekte Moment sein. Er wollte, dass sie sich augenblicklich in ihn verliebte. Also würde er sich Mühe geben, ihr zu gefallen.
Diesen Moment hatte er so lange herbeigesehnt. Jetzt durfte nichts schiefgehen. Nicht so kurz vor dem Ziel. Er ging ins Schlafzimmer und nahm T-Shirt, Hosen und die dazu passenden Socken aus dem Schrank. Alles schon vor einem Jahr für dieses Date gekauft. Alles noch kein einziges Mal getragen. Bedächtig zog er sich um, strich jede Falte glatt.
Gabriel schloss die Haustür hinter sich, warf einen letzten Blick über die Schulter und ging zu seinem Auto, das in der großen Scheune stand. Als er schließlich hinter dem Lenkrad saß, atmete er noch dreimal tief durch. Das war der Tag, auf den er ein ganzes Jahr lang gewartet hatte. Mit zitternder Hand stellte er den Rückspiegel ein undbetrachtete sein Spiegelbild. Eine innere Stimme flüsterte ihm zu: Reiß dich zusammen. Versau’s nicht.
Die ersten vierhundert Meter waren ein holpriger, von haushohen Pappeln gesäumter Feldweg. Er gab nur vorsichtig Gas, damit der Wagen nicht schmutzig
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