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Ich bin der Herr deiner Angst

Ich bin der Herr deiner Angst

Titel: Ich bin der Herr deiner Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan M. Rother
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Leute …»
    Wolfram winselte. Der Laut hatte eine Frequenz erreicht, die kaum noch zu ertragen war.
    Albrecht kniff die Augen zusammen. «Wovon zur Hölle reden Sie?»
    «Ablaufendes Wasser», erklärte Freiligrath. «Die Kraft der Gezeiten ist stark im Mündungstrichter der Elbe. Ein kleines Mädchen in einem roten Anorak, der sich im Wind bläht. Nennen wir sie
Lena
. Graues Wasser, das über dem Kind zusammenschlägt, der Kutter der Küstenwache, viel zu weit weg – und in der falschen Richtung. Das Notsignal:
Calling all stations.
Die Helfer, alle erreichbaren Boote in der Nähe, die auf der Stelle Kurs setzen, herbeieilen. Und nun …»
    Urplötzlich stand der Traumfänger auf und machte zwei Schritte auf den paralysierten Mann im Korbsessel zu.
    Im selben Moment war Jörg Albrecht auf den Beinen.
    Körperliche Gewalt war immer jener Teil seines Berufs gewesen, den er mehr als jeden anderen gehasst hatte.
    Doch mit einem Satz war er hinter Freiligrath, hatte den rechten Arm des Psychologen gepackt und drückte das Handgelenk schmerzhaft in Richtung Schultern.
    «Zurück!», knurrte er und zerrte den Mann von Wolfram weg.
    Freiligrath keuchte, rang um Atem. «Denken … Sie … er muss auf diese Weise … Angst … vor mir …»
    «Ich denke», zischte Albrecht und ließ dem Mann gerade so viel Freiraum, dass er wieder Luft bekam. «Ich denke, dass das reicht! Endgültig! Entweder wird er sich jetzt erinnern, oder
Sie
werden die Güte haben, sich zu erinnern, da Ihre eigene Erinnerung ja offenbar sehr viel besser funktioniert! Sie kommen auf den Punkt oder …» Geflüstert. «Wissen Sie, wie vielen Demonstranten bei Polizeieinsätzen
versehentlich
der Arm gebrochen wird?»
    «Mit Beamten wie Ihnen fühle ich mich als Staatsbürger ganz wunderbar beschützt», zischte Freiligrath, fügte, eine Spur ruhiger, hinzu: «Nun lassen Sie mich schon los! Selbst Ihnen muss klar sein, dass ich nicht vorhabe, diesen Mann mit bloßen Händen zu erwürgen. Und im Übrigen …»
    Ein Nicken.
    Ein Nicken in Richtung Horst Wolframs.
    Der ehemalige Ermittler saß auf seinem Stuhl wie zuvor, doch …
    Das Heulen, dieser Ton aus einer Welt jenseits der Pforten des Todes – das Geräusch war verstummt.
    Und mehr als das. Etwas an Wolfram war anders. Anders nicht allein als in den letzten Minuten, in der stählernen Umklammerung von Freiligraths Folter.
    Es war sein Blick, der Ausdruck seines Gesichts. Muskeln, die vor Jahrzehnten ihre Funktion verloren hatten, schienen sich urplötzlich ihrer Aufgabe zu besinnen, seinen Zügen überhaupt wieder Ausdruck zu geben.
    Schmerz, Verzweiflung. Schreckliche Angst. All das – aber
Ausdruck
.
    Dieses Gesicht war lebendig, und die Augen …
    Wolfram
sah
.
    «Er erinnert sich», flüsterte Albrecht. «Herr Wolfram … Erinnern Sie sich?»
    Wie von selbst löste sich sein Griff um Freiligraths Arm.
    Der Psychologe rieb sich das Handgelenk und beobachtete den Mann im Korbstuhl, über dessen Gesicht eine Million unterschiedlicher Empfindungen huschten.
    Jetzt erst wird ihm klar, wo er ist, dachte Albrecht.
    Und wer vor ihm steht.
    «Sie …!»
, flüsterte Wolfram.
« SIE  …!»
    «Kriminalhauptkommissar Horst Wolfram», murmelte Freiligrath. «Leiter der Ermittlungen gegen den
Traumfänger
. Eine bedeutende Ermittlung – und ein Ermittler, der bei der Hamburger Polizei als der beste galt. Ein Polizist, der seine Tätigkeit nicht als Job verstand, sondern als
Berufung
in all dieser aufgeladenen, altertümlichen Bedeutung. Gerechtigkeit. Sicherheit. Worte, die Ihnen etwas bedeuten, nicht wahr? Die Welt zu schützen vor Monstern – wie mir.»
    Wolframs Hände zitterten auf den Lehnen des Sessels. Sein Körper stand unter Spannung, aber zu schwach. Zu schwach, um aufzuspringen, seine Hände um den Hals des Mannes zu legen, der ihm seine Tochter – seine Frau, sein Leben – genommen hatte.
    «Aber auch ein Mann mit Familie», fuhr Freiligrath versonnen fort. «Eine Familie, die ihm mehr bedeutete, als ihm bis zu diesem einen, entscheidenden Augenblick klar war. Haben Sie oft über die Zukunft nachgegrübelt, Herr Wolfram? Über dieses kleine Mädchen? Waren es helle Bilder? Fröhliche Bilder? Oder hätten es ganz andere Bilder sein können? Haben Sie sich je gefragt …»
    «Verdammt!», knurrte Albrecht und machte erneut einen Schritt auf den Traumfänger zu.
    «Verdammt!» imitierte Freiligrath ihn. «Ich
bin
auf dem Punkt! Alle Anlagen schlummern in unserer Seele!

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