Ich bin die, die niemand sieht
genommen? Als handele es sich um eine gestohlene Tasche.
Ich hielt das beschriebene Papier hoch. Damit log und sündigte ich, aber ich tat es dennoch.
»Hat diese Person Ihnen noch weiteres Leid zugefügt?«
Stocksteif saß ich da und starrte auf ihre Stiefel.
»Miss Finch. Wir müssen das wissen. Sie trifft keine Schuld. Hat er Ihnen die Jungfräulichkeit gestohlen?«
Die dunklen Holzbalken über mir wirkten bedrohlich. Die Bänke hinter mir waren leer. Dort saß nur Mutter und wartete auf meine Antwort.
Nein. Ich schüttelte den Kopf. Er hat mir meine Jungfräulichkeit nicht gestohlen.
LXXI
Ich schlage mich durch das Gestrüpp. Ich bin jetzt ganz nahe. Die Suche ist fast vorbei, aber der schwierige Teil liegt noch vor mir. Ich hätte nie gedacht, dass ich je aus freien Stücken zu ihm zurückkehren würde.
Ich bin da. Die Hütte. Ich klammere mich an einem Baum fest.
Da ist sie. Dunkler. Älter. Kleiner. Oder war sie mir nur in der Erinnerung größer erschienen?
Aus dem Schornstein steigt Rauch auf. Er ist noch am Leben.
LXXII
Sein Messer bohrt sich in den Baumstamm neben mir. Ich ducke mich und hebe schützend die Arme über den Kopf.
Die Tür knallt und ich höre seine Schritte.
Jetzt spüre ich, dass er vor mir steht. Ich spüre seinen Schatten.
Ich sehe ihn an.
LXXIII
»Du«, stellt er überrascht fest.
Er sichert sein Gewehr und zieht das Messer aus dem Baumstamm. Dunkel zeichnen sich seine Umrisse gegen das Sonnenlicht ab. Ich blinzele.
Er kommt auf mich zu, hebt das Messer. Ich schließe die Augen und sehe nur noch dein blutbeflecktes, angstverzerrtes Gesicht.
Ich öffne die Augen wieder und richte mich auf. Er macht einen Schritt zurück. Der Habicht hat Angst vor der Maus. Der Bär fürchtet sich vor der Forelle.
Er sieht immer noch so aus wie damals und doch wirkt er größer. Der stahlgraue Bart reicht ihm bis auf die Rippen. Seine Haare sind hüftlang. Er ist dünner, aber immer noch sehnig und stark. Die Zeit hat an ihm kaum Spuren hinterlassen. In seinen düsteren, gelben Augen sehe ich Begierde, Wut und Scham.
Er richtet sich auf. »Wen hast du mitgebracht?«
Ich schüttele den Kopf. Der Wind lässt mich frösteln. Misstrauisch blickt er sich um, als sei das Rauschen des Windes der Beweis für meinen Verrat.
»Was willst du?« Seine Stimme ist rau. Er durchsucht die Umgebung nach Spuren weiterer Eindringlinge.
Mutters Regeln reichen nicht so weit. Außerdem weiß er, warum ich so seltsam spreche. Ich versuche, deinen Namen hervorzustoßen und forme die Lippen entsprechend der Laute. »Wuukosch.« Das fremdartige Geräusch lässt mich schaudern.
Er starrt mich an. »Was?«
»Wuukosch!«
Jetzt versteht er. Nur das Monster, das mich zum Monster machte, kann mich verstehen. Er runzelt die Stirn.
»Lucas? Was ist mit ihm?«
Ich feuere ein imaginäres Gewehr ab. Bam! Bam! »Wuukosch!« Das erbärmliche Geräusch klingt kein bisschen nach deinem wundervollen Namen.
»Was ist mit Lucas?«
»Hmm-wlon-ohs«. Ich könnte weinen vor Scham über meine Hilflosigkeit. »Schiff. Griig.«
Er versteht mich nicht. Am liebsten würde ich ihn schütteln.
»Griig!«, schreie ich. Meine Kehle schmerzt, sie ist solche Anstrengung nicht gewöhnt.
Homelander! Schiffe! Krieg! Versteh doch! Deine alten Feinde, gegen die du vor vielen Jahren gekämpft hast, kehren zurück. Ist dir das denn gleichgültig?
Ich zwinge mich, nicht zu weinen, knie mich in den trockenen Schmutz und überlege, meine Nachricht aufzuschreiben. Doch ich bin so panisch, dass ich kaum noch weiß, wie das geht. Vielleicht ist Ich … weiß … nicht das einzige, was ich noch schreiben kann.
Mit einem Zweig zeichne ich die Umrisse von Schiffen, die Richtung Roswell Station segeln.
Er sieht mir zu.
»Ich habe eine Künstlerin aus dir gemacht«, grunzt er. Er findet es lustig.
LXXIV
Ich will gehen, doch er fasst mich am Arm.
»Warte. Wie viele Schiffe?«
Warte?
Ich hebe drei Finger. Er nickt. Während er nachdenkt, werden seine Augen zu Schlitzen.
»Homelander.« Es ist keine Frage. Ich nicke.
»Sie kommen also zurück, um Roswell Station dem Erdboden gleich zu machen. Es wurde langsam Zeit.« Er lacht rasselnd. »Mit unserem Sieg letztes Mal haben wir ihre Rache ja geradezu herausgefordert, nicht wahr?«
Ich protestiere mit einem gequälten Laut.
»Du willst jetzt also die Heldin spielen?«
Die Heldin.
»Wuukosch!«
Lachend zuckt er die Schultern. »Bist du in den Jungen verliebt? Bestimmt interessiert er
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