Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich bin die, die niemand sieht

Ich bin die, die niemand sieht

Titel: Ich bin die, die niemand sieht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Berry
Vom Netzwerk:
auf Händen und Knien. Ich höre Männerstimmen flüstern, doch ich bin noch nicht am Rand der Klippe angelangt. Ich bin nicht sicher, ob ich mich dorthin wagen werde.
    Durch das hohe Gras erkenne ich einen Mann. Er kauert auf dem Boden. Wie Antennen betasten seine langen weißen Finger die Pistole. Es ist der Lehrer. Er streicht sich die Haare aus dem Gesicht und kauert sich noch tiefer ins Gebüsch. Es ist feige, sich so zu verstecken, während du und Darrel der Gefahr mutig entgegengeht.
    Ich krieche um Rupert Gillis herum. Er bemerkt nichts, denn er achtet nur auf den Kampflärm.
    Jetzt bewege ich mich noch vorsichtiger.
    Schritte. Ich drücke mich tief ins Gebüsch und versuche, nicht zu atmen.
    Die Schritte halten direkt vor mir inne. Jemand hält mir einen Gewehrlauf ins Gesicht.
    Du bist es. Du zielst auf mich.
    LXXXIII
    Du lebst.
    Blass vor Schrecken starrst du mich an und senkst die Waffe.
    »Judith?«
    Du nennst mich nicht »Miss Finch«, sondern beim Vornamen. Ich stehe auf.
    »Was machst du hier?« Dein Blick zuckt zwischen mir und der Klamm hin und her. Ist es Wut oder eher Angst?
    »Bitte geh nach Hause. Das hier ist kein geeigneter Ort für dich. Wenn du verletzt wirst, kann ich nichts …« Ein Geräusch lenkt dich ab. Du bist wie ein Jagdhund, der Witterung aufnimmt.
    Und du siehst aus, als seist du in einem Albtraum gefangen. Eigentlich müsste ich Mitleid mit dir haben, aber ich bin einfach nur froh, dass du am Leben bist.
    »Bitte geh nach Hause«, wiederholst du. »Bitte.«
    Glaubst du, ich sei hier, weil ich dir gefolgt bin? Der Gedanke bringt mich beinahe zum Lachen.
    Ich schüttele den Kopf. Ich werde nicht heimgehen. Und lachen sollte ich wirklich, denn ich bin jetzt eine Ehefrau und kann damit selbst entscheiden.
    Bei jedem Schuss blickst du dich nach den Männern um, die sich vorwagen, die Gewehre abfeuern und wieder in Deckung gehen.
    Jemand ruft: »Lucas! Wir haben fast keine Munition mehr!«
    Du willst dem Ruf folgen, aber ich fasse deine Hand und ziehe dich in Richtung deines Vaters. Du leistest nicht besonders viel Widerstand. Vielleicht weil du zu überrascht bist. Du schleichst neben mir durchs Gebüsch. Ich lasse deine Hand nicht los. Sie ist voller Schwielen, heiß, verschwitzt. Ich spüre die Haare auf dem Handrücken. In diesem Augenblick bin ich glücklich, was angesichts der Kugeln, die durch die Luft zischen, ziemlich unpassend ist. Aber ich halte deine Hand.
    Plötzlich reißt du sie weg. »Was tue ich hier eigentlich? Judith, ich kann nicht mit dir gehen! «
    Es quält mich, dass du meine furchtbaren Laute hören musst.
    »Komm!«, sage ich einigermaßen deutlich.
    Du starrst mich an. Wir sind beide überrascht. Wenn du glaubst, meine Stimme käme aus der Vergangenheit, dann warte nur noch einen Augenblick.
    Ich nehme wieder deine Hand. Du lässt dich führen.
    Jetzt. Ich biege das hohe Gras zur Seite. Dort kniet dein Vater und arbeitet fieberhaft an seiner Todesmaschine.
    LXXXIV
    Zuerst erkennst du ihn gar nicht. Wie könntest du auch? Dann sieht er dich. Er sieht, dass ich deine Hand halte und wie groß du geworden bist.
    »Lucas.«
    Du starrst erst ihn an, dann mich. Dein Blick dringt durch meinen Mund, mein Kleid und meine dunklen Erinnerungen. Langsam begreifst du – oder glaubst, zu begreifen – und verziehst entsetzt das Gesicht. Entblößt stehe ich vor dir. Ich wünschte, der Erdboden täte sich auf und ich könnte darin verschwinden.
    Über diesen Augenblick hatte ich bisher nicht nachgedacht.
    Ich habe dich zerstört. Ich habe dein Mitleid getötet. Und ich habe keine Zunge, mit der ich die bittere Galle hinunterschlucken könnte. Hier stehst du und dort kauert er, mitten im Kugelhagel. Die Schreie der Verwundeten steigen wie Wildgänse in den strahlend blauen Oktoberhimmel auf.
    LXXXV
    Einen Schrei erkenne ich am Klang. Darrel ist verletzt.
    Mutter, Vater und ich hatten uns früher dermaßen an Darrels Babygeschrei gewöhnt, dass wir beinahe nicht mehr darauf reagierten. Er war Vaters kleiner Bengel, Mutters Liebling, ein süßes Plappermaul mit Löckchen. Wie schade, dass ausgerechnet der Sohn ein so schönes Gesicht hatte. An all das erinnere ich mich, während ich deinen Vater und dessen hübschen Sohn zurücklasse. Dieses eine Mal bin ich froh, dich nicht mehr sehen zu müssen.
    Ich folge Darrels Schreien. Sie sind zu kraftvoll, als dass er im Sterben läge. Wenn er so weiter brüllt, hat er es gleich mit einer ganzen Schiffsladung Feinde zu tun.
    Er liegt

Weitere Kostenlose Bücher