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Ich bin die, die niemand sieht

Ich bin die, die niemand sieht

Titel: Ich bin die, die niemand sieht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Berry
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spürte mit ihrem sechsten Sinn, dass irgendetwas anders war als sonst. Unter dem Vorwand, einen Kaffee trinken zu wollen, kam sie ins Haus. Mutter hatte mich in ihrem Bett versteckt. Goody Pruett zog einfach den Vorhang beiseite – dafür brauchte sie keinen Vorwand.
    »Soso«, sagte sie. »Wenn das nicht die kleine Judith ist. Heimgekehrt nach so langer Zeit. Und warum sollten wir aus dieser guten Neuigkeit ein Geheimnis machen?«
    Danach war es vorbei. Nichts, was Mutter sagte, konnte Goody Pruett davon abhalten, es weiterzuerzählen. Ich war froh darüber. Sollte es ruhig alle Welt wissen.
    Den ganzen Tag über kamen neugierige Besucher vorbei, bis Mutter mich schließlich ins Bett schickte und den anderen sagte, ich sei zu schwach für weiteren Besuch.
    An jenem Abend kamst du über die Felder. Außer Jip war niemand bei dir. Ich war aufgestanden, hatte mich angezogen und draußen vor das Haus gesetzt.
    Jip war als Erster bei mir. Er lief auf mich zu und legte den Kopf in meinen Schoß.
    Dann entdecktest du mich, bliebst stehen und winktest. Du sahst fast ängstlich aus. Ich winkte zurück und du kamst auf mich zu.
    In den zwei Jahren warst du endgültig zum Mann gewo rden. Ich sah an mir hinunter und dachte daran, dass ich in dieser Zeit beinahe zur Frau geworden war, wenigstens fast. Aus Zurückhaltung oder Scham hätte ich mich ins Haus zurückziehen müssen, aber ich konnte es nicht. Zwei Jahre lang hatte ich an dich gedacht und nun standst du vor mir und sahst so anders aus und doch wie früher. Wir waren zu viert – die beiden Kinder von einst, standen neben den Erwachsenen, die einander fremd geworden waren.
    Du konntest mir nicht in die Augen sehen. Stattdessen sahst du Jip dabei zu, wie er ein Kaninchen verfolgte.
    Ich wartete auf deine Worte und fragte mich, ob du das Chaos in meinem Inneren hören konntest, das durch deine Ankunft ausgelöst worden war.
    »Ein wunderschöner Abend heute«, sagtest du nach einer Ewigkeit.
    Ich sah mich um. Es stimmte und für mich hatte das mehrere Gründe. »Hm«, sagte ich.
    Da sahst du mich an. Es war meine Stimme. Natürlich hattest auch du die Neuigkeiten gehört. Ich senkte den Blick.
    Deine Worte überraschten mich. »Ich wusste, dass du zurückkommen würdest.«
    Wirklich?
    Dann wusstest du mehr als ich.
    »Die Leute sagten, du seist tot, aber ich …«
    Ich sah dir in die Augen.
    Was hast du gesagt, als die anderen behaupteten, ich sei tot, Lucas? Was hast du dir gewünscht?
    Ich hörte dich atmen. Ich sah deine Traurigkeit. Ich dachte daran, wie ich von dir geträumt hatte, und fragte mich, ob du je von mir geträumt hattest. Nun war ich zwar zurück, aber doch nicht ganz.
    »Ich …«
    Dennoch war ich froh, dein Mitleid zu spüren.
    »Ich bin froh, dass du wieder da bist.«
    Dann sahen wir zwei Trauertauben zu, die einander hinterherjagten.
    LXX
    Nach meiner Rückkehr musste ich vor die Ältesten treten. Die restlichen Dorfbewohner waren von der Befragung ausgeschlossen, weil ich noch so jung war.
    In der Kirche saß Mutter hinter mir. Ich saß allein auf einem Stuhl vor den Dorfältesten. Sie stellten mir einen kleinen Tisch hin und gaben mir Papier, Feder und Tinte. Mein Magen verkrampfte sich vor Angst. Ihr Starren erinnerte mich an ihn, an seine Augen, die ich immer vor mir sah.
    Vergiss nicht, dass ich dich zweimal verschont habe.
    »Miss Finch«, fragte der Dorfvorsteher Brown, »wir müssen wissen, wo Sie die ganze Zeit gewesen sind.«
    Meine Hand krampfte sich um den Federkiel. Ich wusste nicht, wie ich ihn halten sollte, denn ich konnte kaum schreiben. Manchmal hatte meine Mutter mir vorgelesen, aber sie konnte es selbst nicht besonders gut. Sie hatte mich Kochen, Hausarbeit und Nähen gelehrt. Später hatte Roswell Station einen Lehrer angestellt, aber zu dieser Zeit war ich schon nicht mehr hier.
    Ich tauchte die Feder in die Tinte.
    Ich … weiß … nicht , schrieb ich mit ungelenken Buchstaben.
    Der Bart des Dorfvorstehers bewegte sich beim Sprechen auf und ab. »Kennen Sie den Namen des Ortes nicht oder können Sie sich nicht erinnern, wo Sie waren?«
    Nicht erinnern. Die Worte waren wie ein Seil, mit dem man jemanden aus einem tiefen Brunnen rettet. Damit könnte ich alles erklären.
    Traurig schüttelte ich den Kopf.
    Die Ältesten wurden unruhig. Dorfvorsteher Braun räusperte sich. »Die Zunge wurde Ihnen brutal genommen«, stellte er fest. »Wer hat Ihnen so schreckliches Leid getan?«
    Das war doch kein Mitleid, oder? Meine Zunge –

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