Ich bin die, die niemand sieht
ich hinaufklettern kann. Es brüllt so laut, dass Goody Pruett bestimmt aufwacht, von Mutter ganz zu schweigen. Nach einigen Äpfeln und blauen Flecken habe ich es geschafft. Ich sitze auf seinem Rücken und lenke es zum Fluss.
Schwarz und tief rauscht der Fluss durch die mondlose Nacht.
Es weigert sich, ins Wasser zu gehen. Das hatte ich geahnt.
Aber warum habe ich mir keinen Plan überlegt?
Mit allen Mitteln versuche ich, das Maultier in den Fluss zu bekommen. Ich locke es mit Äpfeln, schiebe von hinten. Es bockt.
Es gibt keine andere Lösung. Ich ziehe mich ganz aus und binde dem Tier meine Kleidung auf den Rücken. Mir ist eiskalt und der Wind, der eben noch angenehm schien, ist nun tödlich. Und ich habe noch nicht einmal einen Fuß im Wasser.
Jetzt.
Kalt! Kalt. So kalt, dass es beinahe heiß ist. Es brennt. Ich kann nicht. Ich kann nicht.
Ich ziehe den Fuß zurück und denke nach.
Lucas, Lucas, warum hast du nicht gemerkt, dass es eine Falle war? Warum habe ich es nicht gemerkt?
Draußen in der Wildnis gibt es kein Gerichtsverfahren. Vielleicht üben sie an dir Selbstjustiz. Auge um Auge, da bliebe nicht viel von dir übrig.
Ich nehme die Zügel, verfüttere den letzten Apfel und stürze mich ins Wasser.
XLIX
Selbstmord. Kälte. Schmerz. Schmerz wie nie zuvor.
Nur noch wenige Sekunden … schon spüre ich meine Hände nicht mehr.
Das Maultier folgt mir. Das ergibt keinen Sinn. Nichts ergibt in dieser Kälte Sinn.
Ich reiße mir die nackten Füße an den kalten, glitschigen Felsen auf. Das Maultier folgt mir.
Ich rutsche auf Kieselsteinen aus und gehe unter. Kälte in Mund und Hals. Es ist zu kalt für Angst.
Das Maultier schwimmt und zieht mich mit. Meine Knie schlagen gegen die Felsen am anderen Ufer. Ich spüre meine Füße nicht mehr und versuche doch aufzustehen. Ich stolpere ans Ufer. Wasser und Blut rinnen meinen Körper hinab.
Am Ufer breche ich zusammen, weiß und nackt wie die erste Io. Das Maultier legt sich neben mich. Es ist nass, aber es verströmt Wärme.
L
Ein Wunder. Meine Kleidung ist trocken geblieben. Mit eisigen Fingern streife ich mir die Kleider über und drücke das Wasser aus meinem Haar. Ich kann jetzt nicht auf das Maultier steigen, aber das ist nicht schlimm, denn ich muss mich bewegen, um mich aufzuwärmen. Im Dunkeln führe ich es durch den Wald. Es folgt mir brav wie ein Lamm.
Diesen Weg bin ich auch in jener Nacht damals gegangen und er führte mich, wie ich jetzt das Maultier führe. Ich ertrug es nicht, ihn anzusehen, weil er etwas Entsetzliches über der Schulter trug. Die weißen Hände hingen nach unten, der Kopf schlug bei jedem Schritt gegen seinen Rücken, ihr weißer Hals war übersät mit Würgemalen.
Ich bin diesen Weg schon mehrmals gegangen.
Lottie ging ihn nur einmal.
LI
Ich merke nicht, wie die Zeit vergeht. Meine Füße folgen dem unsichtbaren Pfad und dein Maultier folgt mir. Es ist dunkel, aber ich verlaufe mich nicht. Nach dem eisigen Bad fühlt sich meine Kleidung wunderbar warm an.
Hier ist der Spalt. Ich binde das Maultier an einen Baum und schlüpfe hindurch. Wer es nicht besser weiß, muss glauben, dass die Kluft direkt in einen massiven Felsen mündet. Ich taste nach der Öffnung und schon bin ich auf der anderen Seite.
Noch hundert Meter durchs Gestrüpp und ich stehe am Rande der Lichtung, auf der mein ehemaliges Zuhause stand.
Ich rieche Rauch. Ich höre Geräusche. Ich schleiche mich an.
Die Fenster sind erleuchtet. Das hier ist mein Fenster. Von dort habe ich den Mond beobachtet.
Ich begreife den Anblick nicht gleich, der sich mir im Schein des Lichts bietet.
Der leblose Körper eines Mannes, an einen Baum gefesselt.
Es ist dein Körper.
LII
Nur die Jahre des Schweigens hindern mich am Schreien.
Hinter den Fenstern sind Schatten zu sehen. Männer durchsuchen die Hütte. Ihre Stimmen dringen durch die Holzbretter nach draußen.
Ich umrunde die Lichtung und achte darauf, außer Sichtweite zu bleiben. Haben sie Wachposten? Ich sehe keine. Dann schleiche ich zu dir und berühre deine hinter dem Baum gefesselten Hände. Sie sind kalt, aber nicht so kalt wie der Tod. Sie zucken.
Gott sei Dank.
Du trägst keinen Mantel. Warum habe ich kein Messer mitgenommen? Ich zerre an den Knoten.
»Wer ist da?«
Ich küsse deine Hand.
»Judith?« Du klingst geschwächt. »Was machst du hier?«
Ich schleiche um den Baumstamm herum. Du siehst fürchterlich aus. Dein Gesicht ist geschwollen, deine Kleidung zerrissen, dein Körper
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