Ich bin eine Nomadin
unvermittelt stand ich an der Whitechapel Road, dem Zentrum der größten muslimischen Gemeinde in Großbritannien. Auf der anderen Straßenseite sah ich die mit Planen abgedeckten Stände eines lärmenden Straßenmarktes, auf dem Saris, internationale Telefonkarten und scharf gewürzte Lamm-Sandwiches feilgeboten wurden. Neben mir auf dem Gehweg warteten Frauen auf den Bus. Sie trugen alle möglichen muslimischen Verschleierungen, vom pastellfarbenen Kopftuch bis zum tiefschwarzen niqab, der nur einen schmalen Schlitz für die Augen frei lässt. Das waren keine Alten, sondern junge, gesunde Frauen, einige schwanger, die meisten mit mehreren Kleinkindern unterwegs. Sie erledigten die Einkäufe für ihre Familien. Etliche trugen eine Kombination, die mir neu war: Zusätzlich zu einem langen Gewand und Kopftuch hatten sie einen zweiteiligen Gesichtsschleier mit Klettband so befestigt, dass die beiden breiten schwarzen Stoffstreifen das Gesicht bis auf einen schmalen Augenschlitz völlig bedeckten.
Die Telefonzellen und die Schilder der Londoner U-Bahn waren zwar britisch, doch ansonsten deutete nicht viel darauf hin, dass ich hier in Großbritannien war. Ich hatte wieder die Düfte an der muslimischen Mädchenschule in Nairobi in der Nase, die berauschende Mischung aus Gewürzen und den parfümierten Haarölen meiner Schulfreundinnen. Hier auf der Straße herrschte ein lärmendes Durcheinander, eine Vielfalt von Menschen verschiedenster Herkunft – Somalis, Pakistanis und Bangladescher schoben sich zwischen den Ständen hindurch.
Schon die Gerüche lösten in mir eine Sehnsucht nach der Unschuld der Jugend aus. Ich weiß nicht, ob in anderen Kulturen der Gemeinschaftssinn auch so stark ausgeprägt ist, doch wenn man in einem Clan aufgewachsen ist, ist der Familienzusammenhalt, der Duft der Familie, sehr stark. Doch in diese Sehnsucht mischte sich auch die Angst vor der Konfrontation. Was, wenn mich, was durchaus vorkommen konnte, in dieser Menschenmenge jemand erkannte und auf mich losging? In den Augen vieler bin ich eine Ungläubige und Verräterin, die bestraft werden muss.
Meine Leibwächter und ich stiegen wieder ins Auto und schlichen die dicht befahrene Whitechapel Road entlang. Vor einem halal- Fastfood-Restaurant saß eine kleine Frau in einem langen schwarzen Gewand im algerischen Stil mit einem schwarz bestickten Dreiecktuch über Nase und Mund. Im Buggy neben ihr weinten zwei kleine Kinder. Sie schaukelte den Wagen, um sie beruhigen, während sie zum Essen den Stoff vor ihrem Mund unauffällig anhob. Das ältere Kleinkind, ein Mädchen, trug ebenfalls ein Tuch. Es war kein Gesichtsschleier, sondern bedeckte Haar und Schultern und war aus einem weißen, elastischen Spitzenstoff, der sich an den Kopf schmiegte. Die Kleine war sicher nicht älter als drei Jahre.
Zwei Häuser weiter erhob sich eine beeindruckende Moschee, die größte in dieser Stadt, wie mir meine Begleiter erklärten. Davor standen mehrere Männer. Alle hatten einen langen Bart und trugen ein weites Gewand und ein weißes Scheitelkäppchen. Sie hatten ihre Heimatländer verlassen und sich hier zusammengetan, wo sie – nicht willens oder nicht fähig, loszulassen – ihre Kultur noch stärker betonten als in ihrer Heimat. Da war sie, die Moschee, wie ein symbolischer magnetischer Pol, die Kraft, die ihre Frauen dazu brachte, sich voller Ingrimm zu verhüllen, um sich die schrecklichen Einflüsse der Kultur und der Werte des Landes vom Leib zu halten, in dem sie aus freien Stücken lebten.
Es war nur ein flüchtiger Blick, und doch stieg unvermittelt Panik in mir auf, mir blieb die Luft weg. Ich war wieder mittendrin in der Welt der Schleier und Scheuklappen, in der Welt, in der Frauen Haar und Körper verstecken, in der sie sich ducken müssen, wenn sie in der Öffentlichkeit einen Happen essen wollen, in der sie sich auf der Straße immer ein paar Schritte hinter ihrem Mann halten müssen. Irgendwie war ich durch ein dichtes Gespinst aus Werten – Ehre, Schande, Religion – noch immer mit so gut wie allen Frauen verbunden, die an jenem Vormittag an der Bushaltestelle warteten oder auf der Whitechapel Road unterwegs waren.
Wir waren alle unendlich weit weg von unserem Geburtsort, doch nur ich hatte diese Kultur hinter mir gelassen. Sie hatten ihr Wertegespinst über den halben Erdball mitgenommen.
Ich kam mir vor, als sei ich die einzige echte Nomadin.
Kapitel zwei
MEINE HALBSCHWESTER
Auf der Rückfahrt zum Flughafen Heathrow
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