Ich bin eine Nomadin
dachte ich an meine erste Begegnung mit meiner Halbschwester Sahra 1992 in Äthiopien. Sahra war damals acht, ich zweiundzwanzig, frisch verheiratet und auf dem Weg nach Europa.
Wir verständigten uns mit Gesten, lächelten uns an, hielten uns an den Händen und redeten munter aneinander vorbei. Sahra war ein reizendes kleines Mädchen, sie hatte die lebhafte Körpersprache meines Vaters und die Neugier eines gescheiten Kindes. Sie tobte energiegeladen, leidenschaftlich und verspielt herum wie meine Schwester Haweya. An jenem Tag trug sie einen ärmellosen Kittel, der an so vielen Stellen geflickt war, dass ich mich schon dafür schämte, ihr nicht ein neues Kleidchen mitgebracht zu haben.
Ich war mir damals nicht sicher, ob es an der Armut lag oder an der Einstellung der Äthiopier zu Kindern. Auch als wir klein waren, hatten die meisten Kinder in Addis Abeba Fetzen am Leib und wurden augenscheinlich von ihren Eltern vernachlässigt. Damals empfand ich diese typisch äthiopische Vernachlässigung als Inbegriff der Freiheit. Ich wollte von meiner Mutter in Ruhe gelassen werden, wollte Tag und Nacht so viele Stunden wie möglich mit Spiel statt mit Arbeit verbringen. Sahras Mutter schien mir so nachsichtig zu sein, wie meine Mutter streng und unfreundlich gewesen war.
Doch nicht nur Sahras Kittel war in desolatem Zustand – die Wohnung sah nicht anders aus. Der Bereich, in dem wir spielten, war vom übrigen Raum mit einem dünnen, einst weißen Baumwolllaken abgetrennt, das jetzt fleckig war von Rauch und Staub. Keiner der Bewohner konnte es sich leisten, es zu ersetzen. Da man nicht zusammenlegte, um die gemeinsam genutzten Wohnbereiche sauber zu halten und Reparaturen durchzuführen, klafften überall rund um das Haus Risse und sogar kleinere und größere Löcher, in denen sich das Wasser sammelte. Am späten Nachmittag sausten und brummten mir fette Stechmücken um die Ohren. Ich kratzte die Brocken Arabisch und Amharisch zusammen, die mir zu Gebote standen, und warb darum, die Wasserlöcher trockenzulegen.
Meine Stiefmutter zuckte in liebenswerter Hilflosigkeit mit den Schultern. »So will es Allah«, sagte sie. »Wenn es aufhört zu regnen, trocknen die Pfützen aus. Allah bringt den Regen, und Allah lässt die Sonne scheinen.«
Die dritte Frau meines Vaters nahm das Leben hin, wie es war. Wie meine Mutter war sie passiv, doch ihre Passivität unterschied sich von der meiner Mutter. Beide Frauen schwammen, glaube ich, im Selbstmitleid. Beide fügten sich in die Umstände, in denen sie sich befanden. Doch meine Mutter fluchte, schimpfte, schrie, stellte Forderungen und beleidigte die, denen sie die Schuld für ihr Unglück gab. Sahras Mutter tadelte lächelnd, senkte den Blick und wirkte zufrieden. Egal, was der nächste Tag brachte, Allah wollte es so, und sie sah keinen Anlass, den Ereignissen, ihrem Mann oder ihrem Gott zu trotzen. Jeder Satz, den sie sprach, endete mit dem Wort inshallah – so Gott will. Das war ihre Art zu überleben.
Mir fehlte es an Überzeugungskraft und Redegewandtheit, um ihr klarzumachen, dass wir zwar den Regen und den Sonnenschein Allah überlassen müssen, die Pfützen aber selber trockenlegen können. Als Kind hatte ich zweimal Malaria gehabt, und in Nairobi hatte man uns in der Grundschule in der Juja Road und auch in der höheren Mädchenschule für Musliminnen im Gesundheits- und Naturwissenschaftsunterricht beigebracht, dass der Parasit, der die Malaria überträgt, seine Eier in stehenden Gewässern ablegt. Damit wir nicht krank wurden, gingen wir mit Sprühmitteln gegen die Stechmücken vor, schliefen unter Moskitonetzen, mussten aber auch alle kleinen Pfützen und Wasserlöcher auf dem Schulgelände und sogar die Schlaglöcher in der Straße vor unserem Haus trockenlegen. Die Pfützen in der Nachbarschaft zu beseitigen gelang uns nie, doch als ich älter war, durchkämmte ich mit dem Eifer einer Überlebenden die Umgebung unseres Hauses in Nairobi und predigte somalischen Verwandten, dass sich im Wasser »unsichtbare Tiere« vermehrten.
Die kleine Sahra und ihre Mutter schienen fest in die Gemeinschaft eingebunden zu sein. Den ganzen Tag über herrschte in Haus und Hof ein reges Kommen und Gehen. In einer Ecke des Hofes stand ein großer Steinbottich mit Wasser, und immer wieder kamen Männer, schöpften mit einer großen Aluminiumkelle Wasser und tranken es direkt aus der Kelle. Die Frauen holten sich Wasser für den Tee oder zum Kochen. Einmal ermahnte jemand
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