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Ich bin eine Nomadin

Ich bin eine Nomadin

Titel: Ich bin eine Nomadin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayaan Hirsi Ali
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wenig über die Familie, wobei ich Themen, die sie anstößig finden könnte, aussparte. Als ich sie danach fragte, warum das Krankenhaus meinen Vater unter falschem Namen führte, antwortete sie: »Oh, das ist der Name, unter dem er in Großbritannien Asyl beantragt hat.«
    Im Zusammenhang mit dem Krankenhaus erzählte mir Sahra eine lustige Anekdote. Als mein Vater ins Krankenhaus eingeliefert wurde, hatte sich ihre Mutter der zuständigen Krankenschwester als seine Frau vorgestellt. Später kam seine erste Ehefrau, Maryan Farah, die ebenfalls in Whitechapel lebte, zu Besuch, und auch sie erklärte, sie sei seine Frau. Das Personal amüsierte sich zudem köstlich über die unglaubliche Anzahl von Menschen, die behaupteten, seine Brüder und Cousins zu sein. Ich lachte. »Die müssen uns alle für verrückt halten«, sagte Sahra. Ich erwiderte, wahrscheinlich erlebe man so etwas in dem Krankenhaus nicht zum ersten Mal.

    Wie ihre Mutter beendete Sahra jeden Satz mit inshallah, so Allah will. Zuerst klang das in meinen Ohren höflich und gut erzogen, doch nach unzähligen Ergebenheitsseufzern und nachdem sie mich mit Allahs Segen geradezu überschüttet hatte, begann ich – das muss ich zu meiner Schande gestehen – mich darüber zu ärgern. Ich konnte ihr nicht mehr trauen. Sie war nicht mehr das glücklich hüpfende Kind, das ich 1992 kennengelernt hatte.
    In diesem ersten echten Telefongespräch, das ich in Großbritannien mit Sahra führte, wollte auch sie mich in den Schoß des Islam zurückholen, mich überreden, meinen Lebensstil aufzugeben und wie sie der Tradition und den Geboten Allahs zu folgen. Während ich ihren Worten lauschte, machte ich mir innerlich ein Bild von dieser kleinen Schwester, der ich nur einmal, sechzehn Jahre zuvor, begegnet war und die nun mit ihrer Mutter und ihrer kleinen Tochter in einer Sozialwohnung in der Nähe der Whitechapel Road lebte, eingehüllt in mehrere Lagen dunklen Stoff.
    Sahra wohnt schon seit Jahren in Europa, hat aber einen anderen Pfad eingeschlagen als ich, die ich mit Gehorsam und Tradition brach und in Holland die Freiheiten der westlichen Welt suchte. Obwohl sie, geografisch betrachtet, in einer modernen Gesellschaft lebt, hält sie an den unerbittlichen alten Werten ihrer Kindheit fest, die Frömmigkeit und Unterwerfung über alles stellen. Dadurch hat sie sich an die Armut gekettet und schlägt die Chancen aus, die ihr die Freiheit bieten würde. Wäre ich, statt vor meiner Familie zu fliehen, nach Kanada zu dem Mann gegangen, mit dem mein Vater einen Ehevertrag geschlossen hatte, würde ich jetzt wahrscheinlich in einem Einwandererviertel in Toronto oder Vancouver wohnen, einem kanadischen Gegenstück zu Tower Hamlets. Ich würde leben wie Sahra: abhängig und eingesperrt in ein Gefängnis, und das in einer freien Gesellschaft.
    »Du musst nur beten«, sagte Sahra, die sich mehr und mehr in ihre Mission hineinsteigerte. »Du wirst sehen, Allah öffnet dir das Herz, und dein Geist wird folgen.«
    Ich widerstand der Versuchung, meine jüngere Halbschwester mit den Vorzügen der Philosophie der Aufklärung vertraut zu machen, dem Fundament für den gesamten Katalog der westlichen Freiheit, die nur einen Steinwurf von ihr entfernt zu haben war. Ich fühlte mich emotional ausgelaugt, körperlich erschöpft von den vielen Flügen. Ich war nicht nach Großbritannien gekommen, um ideologische Schlachten zu schlagen.
    »Meine Süße«, antwortete ich, »ich werde darüber nachdenken.«

    In den folgenden Tagen telefonierte ich oft mit Sahra. Mit ihrem Dschilbab in Whitechapel wurde sie für mich zu einer Art Spiegelbild meines jüngeren Ich in Nairobi. Leicht hätte ich das gleiche Leben führen können. Die Ideen, die sie geformt hatten, hatten auch mich geprägt. Und manchmal fragte ich mich, ob man sich einer so umfassenden geistigen Programmierung überhaupt endgültig entziehen kann.
    Von Vaters vielen Kindern war Sahra dasjenige, mit dem er die meiste Zeit verbracht, dem er die größte Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Sie lebt baari, wie es sich auch für mich gehört hätte und wie man es von jedem anständigen somalischen Mädchen erwartet. Sahra ist gehorsam und ergeben, leidet aber auch unter einem innerlichen Zwist, denn einerseits sucht sie die Anerkennung unseres Vaters, ihrer Mutter und der Gemeinschaft, doch andererseits will sie sicherlich leben wie andere Altersgenossinnen in Europa.
    Diese innere Zerrissenheit führt meines Erachtens dazu, dass sie

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