Ich Bin Gott
er sich um und ging zum Ausgang. Jeremy folgte ihm besorgt. Selten hatte er seinen Stellvertreter in einem Notfall so fassungslos gesehen.
Sie gingen nebeneinander die Straße entlang. Als sie sich der Baustelle näherten, sah Jeremy, dass die Männer die Umzäunung verlassen hatten, eine bunte Gruppe in Arbeitsjacken und farbigen Helmen.
Unwillkürlich beschleunigte er den Schritt.
Als sie den Eingang erreichten, machten ihnen die Arbeiter schweigend Platz. Es war wie eine Szene aus einem alten Film, in dem die Kamera vor dem Eingang einer Mine, in welcher ein plötzlicher Einsturz ein paar Bergarbeiter verschüttet hat, über die stummen und hoffnungslosen Gesichter schwenkt.
Was zum Teufel ist hier los?
Sie vertaten keine Zeit damit, sich Helme aufzusetzen, wie es auf einer Baustelle eigentlich Vorschrift war. Jeremy folgte Ronald, der sich nach rechts gewandt hatte. Sie gingen am Bauzaun entlang, an Mauerresten, die den Abriss überlebt hatten, und stiegen dann eine Treppe zum Kellergeschoss hinunter, das mittlerweile fast vollständig unter freiem Himmel lag. Nur eine einzige Mauer stand noch, die dicke Trennmauer zwischen den beiden ehemaligen Gebäuden. Sie sollte als Nächstes eingerissen werden.
Ronald ging auf die der Treppe gegenüberliegende Ecke zu und blieb stehen, dann schwenkte er wie ein Vorhang zur Seite und gab mit diesem unbeabsichtigten choreografischen Effekt die Sicht frei.
Jeremy lief es kalt den Rücken hinunter, und sein Magen drehte sich um. Er war froh, dass er nur einen Salat gegessen hatte.
Ein Presslufthammer hatte einen Hohlraum freigelegt. Aus einer Spalte ragte, schmutzig vom Staub und von der Zeit, der Arm einer Leiche. Der Kopf, der fast nur noch ein Schädel war, lehnte auf den Überresten der Schulter und schien verbittert aus seinem Versteck herauszuschauen, weil er nun zu spät Licht und Luft wiedergefunden hatte.
8
Vivien Light parkte ihren Volvo XC60, stellte den Motor ab und wartete einen Augenblick, bis die Welt sie wieder eingeholt hatte. Die gesamte Rückfahrt von Cresskill über hatte sie den Eindruck gehabt, als wäre sie irgendwo falsch abgebogen und befände sich nun in einem Paralleluniversum, in dem sie sich viel schneller bewegte als der Rest der Welt. Als zöge sie Bruchstücke der Vergangenheit, rasende Augenblicke und ein Prisma farbiger Zeit hinter sich her wie einen Kometenschweif, den die Menschen durch die Fensterbildschirme ihrer Autos und Häuser sehen konnten.
Das war immer so, wenn sie hinauffuhr, um ihre Schwester zu besuchen.
Auf der Hinfahrt war sie voller Hoffnung, die zwar unbegründet, aber vielleicht gerade deshalb so stark war. Umso größer war dann die Enttäuschung, wenn sie Greta unverändert und schön wie immer vorfand. Als hätten, wie zu einem absurden Ausgleich, die Monate und Jahre keine Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen. Nur ihre Augen, blaue Farbtupfer, starrten in den Abgrund, der durch ihre Krankheit immer tiefer wurde.
Und so war die Rückkehr stets ein Sprung in einen Hyperraum, aus dem sie dann hart mitten in der Realität wieder aufschlug.
Vivien drehte den Rückspiegel zu sich hin. Nicht aus Eitelkeit, sondern um sich als ganz normale Person zu sehen, um sich wiederzuerkennen. Im Spiegel sah sie das Gesicht einer jungen Frau, die schon mancher als schön bezeichnet hatte, durch die andere aber auch einfach hindurchsahen. Und wie das so ist, verhielt sich der Grad der Beachtung umgekehrt proportional zu ihren Interessen.
Sie war ein dunkler Typ, trug die Haare kurz geschnitten, lächelte selten, verschränkte nie die Arme und war manchmal genötigt, mit Menschen in physischen Kontakt zu treten. Aus ihren hellen Augen sprach eine gewisse Härte. Und im Handschuhfach ihres Wagens lag eine Glock 23 Kaliber 40 S&W.
Wäre sie eine normale Frau, wäre ihr täglicher Umgang mit der Wirklichkeit ein anderer. Vielleicht auch ihr Äußeres. Sie trug die Haare kurz, damit man sie bei einer körperlichen Auseinandersetzung nicht festhalten konnte. Ihr strenger Blick gebot Distanz, verschränkte Arme konnten Unsicherheit bedeuten, und eine Person zu berühren, sollte ein Gefühl von Sicherheit vermitteln und eine vertrauensvolle Beziehung aufbauen, damit man sich ihr öffnete. Die Pistole wiederum besaß sie, weil sie Detective Vivien Light vom 13. Revier des New York Police Department an der 21 st Street war. Der Eingang zu ihrem Arbeitsplatz befand sich direkt hinter ihr und wartete nun darauf, dass sie ausstieg und die
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