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Ich bin kein Berliner

Ich bin kein Berliner

Titel: Ich bin kein Berliner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kaminer Wladimir
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werden oder sogar durchdrehen. Manch einer kann nicht einschlafen, manch anderer nicht aufstehen, immer mehr Leute vereinsamen. Sie rufen bei der Seelsorge an, bei der Feuerwehr oder beim Auswärtigen Amt und drohen damit, sich selbst als Geisel zu nehmen: Wenn nicht innerhalb von vierundzwanzig Stunden eine Million Euro in kleinen Scheinen und zwei Kisten Bier vor ihrer Tür stehen, werden im Internet die Köpfe rollen – und zack! legen sie auf.
    Um solche destruktiven Handlungen zu verhindern und die Bürger von ihren düsteren Gedanken abzulenken, werden die Hauptevents hier im Winter veranstaltet. Beim Filmfestival Berlinale kann der Berliner Filme sehen, die sonst niemand auf der Welt bisher gesehen hat. Auch kann man dort jede Menge tolle Schauspielerinnen kennenlernen, die niemand kennt. Bei der Grünen Woche werden etliche ausländische Lebensmittel präsentiert, die es durch die äußerst strengen Kontrollen des Gesundheitsamtes bis nach Berlin geschafft haben. Viele sind es nicht. Die russischen Lebensmittel zum Beispiel, die in Deutschland verkauft werden, werden auch in Deutschland produziert. Deswegen schmecken sie so komisch: weder russisch noch deutsch, irgendwie multikulturell. Die Originalprodukte entsprechen nicht der deutschen Norm, weil sie von allem zu viel beinhalten. Die Konfitüre hat zu viel Zucker, die Wurst ist zu fett, der Senf schmeckt zu scharf, der Alkohol zu alkoholisch und die Salzgurken zu salzig. Sie sind sehr lecker, sorgen aber oft für unerwartete Magengeräusche. Der Verzehr dieser Produkte kann unter Umständen den Menschen in ihrer Umgebung Schaden zufügen.
    Bei der Grünen Woche werden außer Wodka nur pseudorussische Waren ausgestellt. Trotzdem gehen wir jedes Jahr dorthin, um unsere Nostalgie zu stillen und die Kinder zu unterhalten. Die Grüne Woche bietet nämlich Spaß für die ganze Familie. Eltern können dort an jeder Ecke ein alkoholhaltiges Erfrischungsgetränk aus weit entfernten Ländern zu sich nehmen und Kinder eine echte Kuh aus Brandenburg unter Aufsicht des Dienst habenden Fachpersonals sowie in Begleitung ihrer schon leicht betüdelten Eltern melken. Die ersten sechs Tage wird die Grüne Woche traditionsgemäß nur mäßig besucht. Die echten Berliner gehen erst am letzten Tag auf die Messe. Von Montag bis Samstag schauen sie sich den Event im Fernsehen an, schneiden sich Gutscheine dafür aus den Zeitungen aus, essen und trinken nichts und halten sich in Form. Am letzten Tag, wenn die Aussteller schon mit dem Abbauen begonnen haben und nicht wissen, wohin mit ihrem ganzen Zeug, schlagen die Berliner zu. Erst wird die Kuh aus Brandenburg in Sekunden leer gemolken, dann laufen alle zum Italiener – »Zehn Würste drei Euro!« –, dann zum Franzosen – »Der hatte letztes Jahr gutes Porzellan« –, von dort weiter zu der Riesensahnetorte, die von der Eröffnung noch übrig geblieben ist. – »Mit Bier geht alles.«
    Wir gehen unseren eigenen Weg. Als Erstes besuchen wir aus lauter Patriotismus den russischen Pavillon. Die russische Halle erinnert tatsächlich an unsere Heimat: Sie ist sehr groß, und es gibt nichts zu essen. Dafür ganz viele Broschüren über die letzten besonders erfolgreichen Ernten und die Fortschritte in der Landwirtschaft, einen großen tiefgefrorenen Fisch, einen überdimensionalen Rasenmäher in der Mitte und drum herum Plakate mit angemalten Würsten.
    »Wir sind nicht hierhergekommen, um die Berliner zu füttern, sondern um wichtige wirtschaftliche Kontakte zu knüpfen!«, erklären uns unsere Landsleute, die den gefrorenen Fisch bewachen.
    »Alles klar«, sagen wir, »unsere Nostalgie ist befriedigt, wir gehen zum Ukrainer essen.«
    Die ukrainische Halle muss man nicht lange suchen, sie ist traditionell neben der russischen angesiedelt. Außerdem hört und riecht man die ukrainische Küche schon von weitem. Auf jedem Quadratzentimeter Fläche wird dort gebraten, gegrillt, gekocht und eingeschenkt. Junge Mädchen in volkstümlichen Büstenhaltern tanzen auf der Bühne, und langhaarige Jungs imitieren trashige ukrainische Folklore auf einem exotischen Instrument, das einmal ein Keyboard war, bevor es in die Ukraine auswanderte. Am Ende des Tages sind die Ukrainer alle satt und betrunken, und die Russen haben viele Kontakte geknüpft. Wir dagegen haben Schwierigkeiten, den Ausgang aus dem ukrainischen Pavillon zu finden. Der Pfefferwodka, ein Teufelszeug, bricht unseren Konsumentenwillen, macht uns weich und für alle Angebote

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