Rebeccas Traum
1. K APITEL
Rebecca wusste, es war verrückt. Aber genau das war es, was sie daran reizte. Es war gegen jede Vernunft und widersprach eigentlich ihrem Wesen. Aber sie erlebte gerade die aufregendste Zeit ihres Lebens. Vom Balkon ihrer Suite aus hatte sie einen wundervollen Ausblick auf das tiefblaue Wasser des Ionischen Meeres. Die Sonne ging gerade unter und warf leuchtend rote Strahlen über das nur leicht bewegte Wasser.
Korfu. Allein schon der Name klang geheimnisvoll und verlockend. Und sie war hier, wirklich hier. Sie, Rebecca Malone, eine nüchtern denkende und ebenso handelnde Frau, die sich vorher nie mehr als ein paar hundert Kilometer von Philadelphia entfernt hatte, war in Griechenland! Und zwar auf Korfu, einem der bevorzugten Ferienparadiese Europas.
Aber so hatte sie es sich auch vorgestellt. Nur vom Besten, solange es eben ging. Dazu war sie fest entschlossen.
Rebeccas Chef hatte sie ungläubig angesehen, als sie ihm von ihrem Vorhaben erzählte und ihm anschließend die Kündigung überreicht hatte. Ihr war klar gewesen, dass er für ihren Entschluss niemals wirkliches Verständnis aufbringen würde. Rebecca arbeitete bei einer der besten Steuerberatungsfirmen Philadelphias als Buchhalterin. Sie bekam ein ansehnliches Gehalt und hatte gute Aufstiegschancen.
Auch ihre Freunde hatten sich sehr gewundert, dass sie diesen Job aufgab, ohne einen besseren gefunden zu haben.
Aber Rebecca hatte sich um all dies nicht gekümmert. Als ihr letzter Arbeitstag gekommen war, hatte sie ihren Schreibtisch aufgeräumt, ihre Sachen eingepackt und war gegangen.
Als sie dann auch noch ihre Wohnung mitsamt der Einrichtung innerhalb einer Woche verkauft hatte, zweifelten wirklich einige Freunde und Bekannte an ihrem Verstand.
Aber Rebecca hatte sich niemals klarer bei Verstand gefühlt.
Nun besaß sie tatsächlich nicht mehr, als in einen Koffer passte. Sie hatte keinerlei Verpflichtungen und seit sechs Wochen keine Rechenmaschine und Steuerbelege mehr zu Gesicht bekommen.
Zum ersten Mal, und vielleicht zum letzten Mal in ihrem Leben, war sie völlig frei und ungebunden. Sie stand nicht unter Zeitdruck, brauchte morgens ihren Kaffee nicht in Eile hinunterzustürzen und nach der Uhr zu leben. Sie hatte nicht einmal einen Wecker eingepackt. Sie besaß gar keinen mehr. Verrückt? Nein! Rebecca schüttelte den Kopf und lachte. Sie war entschlossen, das Leben in vollen Zügen zu genießen, solange es nur irgend ging.
Der Tod ihrer Tante Jeannie war der Wendepunkt in ihrem Leben gewesen. Völlig unerwartet stand Rebecca ohne jeden weiteren Verwandten in der Welt allein da.
Tante Jeannie hatte ihr Leben lang hart gearbeitet. Sie war immer pünktlich gewesen, immer zuverlässig. Ihre Stellung als Leiterin einer Bibliothek war ihr einziger Lebensinhalt gewesen. Sie hatte niemals auch nur einen Tag gefehlt oder auch nur einmal ihre Pflicht nicht erfüllt. Sie war ein Mensch gewesen, der seine Versprechen immer einhielt und auf den man sich verlassen konnte.
Mehr als nur einmal hatte man Rebecca gesagt, sie ähnle ihrer Tante sehr. Sie war zwar erst vierundzwanzig, aber sie war ebenso korrekt und solide wie ihre unverheiratete Tante. Tante Jeannie hatte gerade zwei Monate Zeit gehabt, Reisepläne zu schmieden und ihr wohlverdientes Rentenalter zu genießen. Dann war sie im Alter von fünfundsechzig Jahren gestorben. Mehr Zeit war ihr nicht geblieben, die Früchte ihres langen Arbeitslebens zu genießen.
Zuerst hatte Rebecca außer großer Traurigkeit nichts verspürt. Doch nach und nach war ihr klar geworden, dass sie das gleiche Schicksal erwartete, wenn sie weiterlebte wie bisher. Sie arbeitete, schlief und aß allein in ihrer schönen Wohnung, die sie von ihrer Tante geerbt hatte. Sie besaß einen kleinen Kreis netter Freunde, auf die sie sich in schwierigen Zeiten verlassen konnte. Rebecca war ein Mensch, der sich immer zu helfen wusste. Sie würde niemals jemanden mit ihren Problemen belasten – sie hatte nämlich keine.
Irgendwann begriff sie dann, dass sie ihr Leben ändern musste. Und sie tat es.
Es war eigentlich kein Davonlaufen gewesen, eher ein »Sichbefreien« von vielen Zwängen und starren Gewohnheiten. Bisher hatte sie immer getan, was man von ihr erwartete. Sie hatte immer versucht, wenig Aufhebens um ihre Person zu machen. Während ihrer Schulzeit war sie ein eher schüchternes Mädchen gewesen, das lieber las, als mit ihren Altersgenossen herumzutollen. Als sie dann aufs College ging, wollte sie
Weitere Kostenlose Bücher