Ich bin Malala: Das Mädchen, das die Taliban erschießen ...
Schule zu eröffnen, doch ohne Familienkontakte oder Geld war es äußerst schwierig für ihn, diesen Traum wahr werden zu lassen. Für ihn gab es nichts Wichtigeres als Wissen. Er erinnerte sich, dass ihm der Fluss in seinem Dorf ein Rätsel gewesen war und er sich gefragt hatte, woher das Wasser kam und wohin es ging, bis ihm der Wasserkreislauf vom Regen zu den Meeren erklärt wurde.
Seine Dorfschule war nur ein kleines Gebäude gewesen. Der Unterricht wurde oft unter einem Baum auf der nackten Erde abgehalten. Toiletten gab es nicht, die Kinder wurden auf die Felder geschickt, um ihre Notdurft zu verrichten. Er habe wirklich Glück gehabt, sagt er. Seine Schwestern – meine Tanten – gingen überhaupt nicht zur Schule, so wie Millionen Mädchen in meiner Heimat. Bildung war für ihn ein großes Geschenk gewesen. Er glaubte, dass der Mangel an Bildung die Wurzel aller pakistanischen Probleme war. Unwissenheit ermöglichte es den Politikern, das Volk zu täuschen, und unfähigen Verwaltern, wiedergewählt zu werden. Er wollte, dass Schulbildung allen zugänglich war, Armen und Reichen, Jungen und Mädchen. In der Schule, von der mein Vater träumte, gab es Pulte, eine Bibliothek, Computer, lehrreiche Poster an den Wänden und, das Allerwichtigste, Toiletten.
Mein Großvater hegte einen anderen Traum für seinen jüngsten Sohn – er wünschte sich so sehr, er würde Arzt werden. Und als einer von zwei Söhnen wurde von ihm auch erwartet, etwas zur Haushaltskasse beizusteuern. Saeed Ramzan, der ältere Bruder meines Vaters, hatte jahrelang als Lehrer an einer Dorfschule unterrichtet. Er lebte mit seiner Familie bei meinem Großvater, und als er von seinem Gehalt genug gespart hatte, bauten sie am Haus ein kleines Jujra für Gäste an. Er holte Holz zum Feuermachen aus den Bergen und arbeitete nach der Schule auf den Feldern, auf denen unsere Familie ein paar Büffel hielt. Er ging meinem Großvater auch bei anstrengenden Arbeiten zur Hand, zum Beispiel, um Schnee vom Dach zu schippen.
Als meinem Vater am Jehanzeb-College, dem besten weiterbildenden Institut im Swat, ein Studienplatz angeboten wurde, wollte mein Großvater nicht für seinen Lebensunterhalt aufkommen. Seine eigene Ausbildung in Delhi war unentgeltlich gewesen – er hatte als Talib in Moscheen gelebt, und die Einheimischen hatten die Studenten mit Nahrung und Kleidung versorgt. Die Ausbildung am Jehanzeb-College war zwar ebenfalls kostenlos, aber mein Vater brauchte Geld zum Leben. In Pakistan gibt es keine Studentenkredite, und er hatte auch noch nie einen Fuß in ein Bankinstitut gesetzt. Das College war in Saidu Sharif, der Partnerstadt von Mingora, und er hatte dort keine Verwandten, bei denen er wohnen konnte. Es gab kein anderes College in Shangla, und wenn er nicht aufs College ging, würde er nie aus dem Dorf fortgehen und seinen Traum verwirklichen können.
Mein Vater war am Ende seiner Weisheit und weinte aus Frust.
Kurz bevor er die Schule abgebrochen hatte, war seine geliebte Mutter gestorben. Er wusste, sie wäre auf seiner Seite gewesen, wenn sie noch gelebt hätte. Er flehte seinen Vater an nachzugeben, aber erfolglos. Seine einzige Hoffnung war sein Schwager in Karachi. Mein Großvater regte an, er könnte meinen Vater vielleicht aufnehmen, so dass er dort das College besuchen könnte. Die Eheleute wurden bald in Barkana erwartet, um ihr Beileid zum Tod meiner Großmutter auszusprechen.
Mein Vater betete, dass sie einverstanden sein mögen. Doch als sie nach der dreitägigen Busfahrt erschöpft eintrafen und mein Großvater sie fragte, lehnte sein Schwiegersohn rundweg ab. Mein Großvater war so wütend, dass er während ihres ganzen Aufenthalts kein Wort mehr mit ihnen sprach.
Mein Vater sah seine letzte Chance vertan und sich am Ende an einer Dorfschule unterrichten. Die Schule, an der mein Onkel
Khan Dada
unterrichtete, lag in dem Bergdorf Sewoor, anderthalb Stunden Aufstieg von ihrem Haus entfernt. Die Schule war nicht in einem eigenen Gebäude, sondern im große Saal der Moschee untergebracht, wo mehr als hundert Kinder von fünf bis fünfzehn Jahren unterrichtet wurden. Die Menschen, die dort lebten, waren Gujaren, Kohistanen und Mian . Wir betrachten die Mian als vornehme Grundbesitzer, aber Gujaren und Kohistanen waren für uns Bergvölker Bauern, die Büffel halten. Ihre Kinder waren meistens schmutzig und wurden von den Dörflern, obwohl selbst arm, verachtet. »Sie sind dreckig, schwarz und dumm«, sagten sie,
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