Ich bin Malala: Das Mädchen, das die Taliban erschießen ...
im Haus zu erfüllen. Nur in dringenden Notfällen dürfen sie das Haus verlassen. Dann aber müssen sie verschleiert sein.« Manchmal stellten seine Männer öffentlich schicke Kleider aus, die sie angeblich »verworfenen« Frauen abgenommen hatten, um diese zu beschämen.
Meine Freundinnen erzählten in der Schule, dass ihre Mütter dem Radio-Mullah zuhörten. Unsere Rektorin, Madam Maryam, aber riet uns, dies nicht zu tun. Zu Hause hatten wir nur das alte Radio meines Großvaters, und das war kaputt. Aber alle Freundinnen meiner Mutter lauschten Fazlullah und berichteten ihr, was er verkündet hatte. Sie lobten ihn und erzählten, wie lang sein Haar war, wie er reiten konnte und sich überhaupt in allen Dingen benahm wie der Prophet. Die Frauen schilderten ihm ihre Träume, und er betete für sie. Meine Mutter hatte Freude an diesen Geschichten. Doch mein Vater war entsetzt!
Fazlullahs Worte verwirrten mich. Im heiligen Koran steht nicht geschrieben, dass die Männer hinausgehen und die Frauen den ganzen Tag im Haus arbeiten sollen. Im Islam-Unterricht schrieben wir Aufsätze zum Thema »Was für ein Leben führte der Prophet?«. Wir hatten gelernt, dass die erste Frau des Propheten eine Händlerin namens Khadija war. Sie war vierzig, fünfzehn Jahre älter als er, und sie war schon einmal verheiratet gewesen. Dennoch hatte er sie zur Frau genommen.
Weil ich meine Mutter so genau kannte, wusste ich auch, dass paschtunische Frauen sehr stark und mächtig sind. Ihre Mutter, meine Großmutter, hatte allein acht Kinder großgezogen, nachdem mein Großvater einen Unfall hatte, bei dem er sich das Becken brach. Er konnte sein Bett acht Jahre lang nicht verlassen.
Ein Mann geht zur Arbeit, verdient seinen Lohn, kommt nach Hause, isst und schläft. Das ist alles, was er tut. Unsere Männer denken, Geld verdienen und andere herumkommandieren, darin liegt die Macht. Sie denken nicht, dass die Macht in den Händen einer Frau ist, die sich den ganzen Tag um alles kümmert und ihre Kinder gebiert.
Bei uns zu Hause hat meine Mutter alles organisiert, weil mein Vater so viel zu tun hatte. Es war meine Mutter, die früh am Morgen aufstand, unsere Schulkleidung bügelte, uns Frühstück machte und uns gutes Benehmen beibrachte. Es war meine Mutter, die auf den Basar ging, für uns einkaufte und kochte. Dies alles lag in ihrer Verantwortung.
Im ersten Taliban-Jahr wurde ich zweimal operiert, einmal wurde mir der Blinddarm herausgenommen, das andere Mal wurden die Mandeln entfernt. Auch Khushal hat man den Blinddarm herausgenommen. Es war meine Mutter, die dafür sorgte, dass wir ins Krankenhaus kamen. Der Vater hat uns nur besucht und Eis mitgebracht. Doch meine Mutter glaubte immer noch, im Koran stehe geschrieben, dass Frauen nicht aus dem Haus gehen, dass Frauen nicht mit Männern sprechen sollen. Mein Vater sagte zu ihr: »Purdah ist nicht der Schleier. Purdah ist im Herzen.«
Viele Frauen waren so bewegt von dem, was er sagte, dass sie ihm Gold und Geld gaben, vor allem in armen Dörfern oder in Haushalten, in denen die Männer auswärts arbeiteten. Es wurden Tische für die Frauen aufgestellt, und sie standen Schlange, um ihre Hochzeitsarmreife und Halsketten dort abzuliefern – oder sie schickten ihre Söhne. Manche verschenkten ihre gesamten Ersparnisse in dem Glauben, dass es Gott glücklich machte. Fazlullah soll auf diese Weise mehr als eine Tonne Gold eingesammelt haben.
In Imam Deri baute er aus rotem Backstein ein groß angelegtes Zentrum, komplett mit einer Madrasa, einer Moschee, Mauern und Wällen, um es vor dem Fluss Swat zu schützen. Niemand wusste, woher er den Zement und die Eisenstangen erhielt, aber die Arbeitskräfte waren aus der Umgebung. Jedes Dorf musste abwechselnd für einen Tag Männer hinschicken, um beim Bau des Hauptquartiers zu helfen.
Eines Tages eröffnete Nawab Ali, einer der Urdu-Lehrer, meinem Vater: »Ich komme morgen nicht in die Schule.« Als mein Vater nach dem Grund fragte, erklärte er, sein Dorf sei mit der Arbeit für Fazlullah an der Reihe.
»Deine wichtigste Verantwortung ist es, die Schüler zu unterrichten«, erwiderte mein Vater.
»Nein, ich muss das machen«, sagte Nawab.
Mein Vater schnaubte vor Wut, als er zu Hause war. »Würden die Menschen freiwillig Schulen oder Straßen bauen oder auch den Fluss von Plastikverpackungen säubern, bei Gott, dann wäre Pakistan innerhalb eines Jahres ein Paradies«, sagte er. »Die einzige Wohltätigkeit, die sie kennen, ist
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