Ich bin Malala: Das Mädchen, das die Taliban erschießen ...
über das ganze Gebiet herrschte und ihre Streitigkeiten schlichtete.
Nach einer Reihe von Fehlschlägen bestimmten die Häuptlinge 1917 einen Mann namens Miangul Abdul Wadud zu ihrem Herrscher. Wir nennen Miangul Abdul Wadud liebevoll Badshah Sahib, und obwohl er vollkommen ungebildet war, gelang es ihm, Frieden in das Tal zu bringen. Einem Paschtunen das Gewehr wegzunehmen, das ist, als nähme man ihm das Leben, deshalb konnte er sie nicht entwaffnen. Stattdessen errichtete er auf den Bergen im ganzen Swat Festungen und stellte ein Heer zusammen. Miangul Abdul Wadud wurde von den Briten 1926 als Staatsoberhaupt anerkannt und als
Wali
eingesetzt. Er ließ die erste Telefonanlage installieren, baute die erste Grundschule und schaffte das Wesh-System ab. Aufgrund des ständigen Wechsels zwischen den Dörfern entwickelte niemand Interesse, bessere Häuser zu bauen oder Obstbäume zu pflanzen.
1949 , zwei Jahre nach der Gründung Pakistans, dankte er zugunsten seines älteren Sohnes Miangul Abdul Haq Jehanzeb ab, der zum
Wali
des Swat erkoren wurde. Mein Vater sagt immer: »Nachdem Badshah Sahib Frieden brachte, hat sein Sohn für Wohlstand gesorgt.« Wir betrachten Jehanzebs Regierung als goldene Zeit unserer Geschichte. Er war in einer britischen Schule in Peshawar ausgebildet worden. Eben weil sein Vater weder lesen noch schreiben konnte, setzte er sich sehr für den Bau von Schulen ein. Er ließ auch Krankenhäuser und Straßen errichten. In den fünfziger Jahren beendete er das System, bei dem die einfachen Leute Abgaben an die Khans zahlen mussten. Doch es gab keine Meinungsfreiheit. Wer immer den
Wali
kritisierte, wurde aus dem Tal vertrieben. 1969 , im Geburtsjahr meines Vaters, gab der
Wali
die Macht ab, und wir wurden Teil von Pakistans nordwestlicher Grenzprovinz, die sich dann vor wenigen Jahren in Khyber Pakhtunkhwa umbenannte.
So wurde ich als stolze Tochter eines Pakistaners geboren, dabei sehen wir uns, wie alle Swat-Bewohner, in erster Linie als Swati, dann als Paschtunen und erst zuletzt als Pakistaner.
In unserer Straße wohnte neben uns eine Familie mit einem Mädchen in meinem Alter, Safina, und zwei Söhnen, Barbar und Basit, die ungefähr so alt waren wie meine Brüder. Wir spielten alle zusammen Kricket auf der Straße oder auf dem Dach, aber ich wusste, wurden wir älter, würde von den Mädchen erwartet, dass sie im Haus blieben. Man erwartete von uns, für unsere Brüder und Väter zu kochen und sie zu bedienen. Während die Jungen frei in der Stadt umherstreifen durften, konnten meine Mutter und ich nicht ohne Begleitung eines männlichen Verwandten aus dem Haus gehen, und wenn es ein fünfjähriger Junge war! So verlangte es die Tradition.
Ich hatte sehr früh beschlossen, nicht so zu leben. Mein Vater sagte: »Malala wird frei wie ein Vogel sein.« Ich träumte davon, wie Alexander der Große auf den Ilam zu steigen und Jupiter zu berühren, sogar das Tal zu verlassen. Doch wenn ich meinen Brüdern zusah, wie sie aufs Dach liefen, ihre Drachen steigen ließen und die Schnüre geschickt hin und her manövrierten, um den Drachen des anderen nach unten zu zwingen, da fragte ich mich, wie frei eine Tochter wohl jemals sein könnte.
2
Mein Vater, der Falke
M ein Vater hatte Schwierigkeiten mit den Wörtern. Manchmal stockten sie, und er wiederholte immerzu dieselbe Silbe, wie bei einer Schallplatte, wenn die Nadel hängenbleibt. Wir alle haben dann gewartet, dass er die nächste Silbe hervorstieß. Er sagte, es fühlte sich an, als würde sich eine Mauer in seine Kehle senken. M, P und K waren Feinde, die auf der Lauer lagen. Ich neckte ihn damit, dass er mich auch deswegen
Jani
nannte, weil es für ihn leichter auszusprechen war als Malala.
Stottern war entsetzlich für einen Mann, der Wörter und Gedichte so liebte. Auf jeder Seite der Familie hatte er einen Onkel mit demselben Leiden. Aber es wurde sicherlich noch verschlimmert durch seinen Vater, meinen Großvater, dessen Stimme ein tragendes Instrument war, das Wörter beliebig dröhnen und tanzen lassen konnte.
»Spuck’s raus, mein Sohn!«, brüllte er, wenn mein Vater mitten im Satz steckenblieb. Der Name meines Großvaters war Rohul Amin, das bedeutet »Geist der Zuverlässigkeit« und ist der heilige Name des Erzengels Gabriel. Er war so stolz auf diesen Namen, dass er sich den Leuten mit einem berühmten Vers vorstellte, in dem der Name vorkommt. Er war jedoch ein ungeduldiger Mensch, der über die geringste Kleinigkeit in
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