Ich bin Malala: Das Mädchen, das die Taliban erschießen ...
Gedichte, und während Mutter den Reis ausstreute, sang sie: »Töte die Tauben im Garten nicht. / Tötest du eine, kommt keine mehr zurück.«
Gern saß ich auf dem Dach, betrachtete die Berge und träumte. Der höchste Berg von allen ist der pyramidenförmige Ilam. Dieser Berg ist uns heilig, und er ist so hoch, dass er immer eine Halskrause aus Schäfchenwolken trägt. Selbst im Sommer ist er mit Schnee überzuckert. In der Schule lernten wir, dass im Jahr 327 vor Christus, noch bevor die Buddhisten sich im Swat-Gebiet niederließen, Alexander der Große mit Tausenden von Elefanten und Soldaten auf dem Weg von Afghanistan zum Indus in das Tal einfiel. Er wollte alles erobern, wohin er auch kam. Aus diesem Grund flohen die Bewohner des Swat auf den Ilam; sie glaubten, weil er so hoch war, würden sie von ihren Göttern beschützt. Aber Alexander war nicht umsonst ein entschlossener Feldherr. Kurzerhand errichtete er eine Holzrampe, von der seine Steinschleudern und Pfeile den Gipfel des Berges erreichten. Dann stieg er so hoch hinauf, dass er, der Legende nach, den Stern Jupiter berühren konnte, um so seine Macht zu symbolisieren.
Auf dem Dach beobachtete ich, wie sich die Berge mit den Jahreszeiten veränderten. Im Herbst kamen von ihnen kalte Winde ins Tal, und im Winter war alles weiß von Schnee. Vom Dach hingen dann lange Eiszapfen wie Dolche herunter, die wir gern abbrachen. Wir rannten herum, bauten auch Schneemänner und Schneebären und haschten Schneeflocken.
In unserem Garten in Mingora, wo ich mit Atal einen Schneemann baue. Es war das erste Mal, dass in unserer Stadt Schnee fiel.
Im Frühling war das Swat am grünsten. Eukalyptusblüten wehten heran und überstäubten alles mit den weißen Blütenblättern, und der Wind trug den beißenden Geruch von den Reisfeldern herüber.
Ich kam im Sommer zur Welt. Vielleicht war er deshalb meine Lieblingsjahreszeit, obwohl die Sommer in Mingora heiß und trocken waren und der Fluss, in den die Leute ihren Müll hineinkippten, gestunken hat.
Wir waren damals sehr arm. Mein Vater und sein Freund hatten ihre erste Schule gegründet, und wir wohnten in einer schäbigen Hütte mit zwei Räumen gegenüber der Schule. In einem Zimmer schlief ich mit meinen Eltern, das andere war für Gäste. Wir hatten kein Bad und keine Küche, meine Mutter kochte über einem Holzfeuer und wusch unsere Wäsche an einem Wasserhahn in der Schule. Das Gästezimmer war wichtig, denn wir hatten immer viel Besuch. Gastfreundschaft ist, wie gesagt, ein wesentlicher Teil der paschtunischen Kultur.
Mit meinem Bruder Khushal in Mingora.
Zwei Jahre nach meiner Geburt kam mein Bruder Khushal. Wie ich wurde er zu Hause geboren, weil meine Eltern sich das Krankenhaus immer noch nicht leisten konnten. Und wie die Schule meines Vaters wurde er nach dem paschtunischen Helden Khushal Khan Kattack genannt, einem Krieger und Dichter. Meine Mutter hatte auf einen Sohn gehofft – und konnte ihre Freude nicht verbergen, als man ihr sagte, es sei kein Mädchen. Mir kam mein Bruder sehr dünn und klein vor, wie ein Schilfrohr, das im Wind knicken konnte. Aber er war ihr Augapfel, ihr
ladla.
Mir schien, jeder Wunsch von ihm war ihr Befehl. Er wollte immerzu Tee, unseren traditionellen Tee mit Milch, Zucker und Kardamom, aber sogar für sie war das zu viel. Schließlich bereitete sie einen so bitteren Tee zu, dass ihm die Lust darauf verging. Sie wollte für ihn eine neue Wiege kaufen – als ich zur Welt kam, konnte mein Vater sich keine leisten, und so benutzten sie eine alte hölzerne Wiege von Nachbarn, die schon aus dritter oder vierter Hand war. Mein Vater aber weigerte sich: »Malala lag in dieser Wiege«, sagte er. »Da ist sie auch gut genug für ihn.«
Mit meinem Bruder Khushal beim Lesen.
Fast fünf Jahre später gebar sie noch einen Jungen, Atal, helläugig und neugierig wie ein Eichhörnchen. Danach waren wir komplett. Drei Kinder, das war nach Swat-Maßstäben eine kleine Familie; die meisten hatten sieben oder acht.
Ich spielte meistens mit Khushal, weil er nur zwei Jahre jünger war als ich, aber wir haben uns immerzu gestritten. Dann lief er heulend zu meiner Mutter, und ich lief zu meinem Vater. »Was fehlt dir, Jani ?«, fragte er dann. Er nannte mich gern Jani, »mein liebstes Herz«. Wie er war ich gleichsam mit Gummigelenken auf die Welt gekommen und konnte meine Finger ganz nach hinten biegen und beim Gehen mit den Gelenken knacken, was die Erwachsenen zusammenzucken ließ.
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