Ich bin Malala: Das Mädchen, das die Taliban erschießen ...
verbringen und ständig fragen müssen: »Aba, wo bin ich?« Diese Nachricht war so schrecklich, dass er es nicht über sich brachte, meiner Mutter davon zu erzählen. Und das, obwohl er normalerweise nichts vor ihr verheimlichen kann. Stattdessen sprach er zu Gott: »Das geht nicht. Ich werde ihr eines meiner Augen geben.« Dann aber kamen ihm Zweifel, dass seine 43 Jahre alten Augen vielleicht nicht gut genug sein könnten für mich.
In dieser Nacht fand er keinen Schlaf. Am nächsten Morgen bat er den General, ihm doch sein Handy zu leihen, um damit Oberst Junaid anzurufen. »Ich habe gehört, dass Malala nicht mehr sehen kann«, klagte er dem Oberst sein Leid. »Was für ein Unsinn!«, antwortete dieser. »Wenn sie lesen und schreiben kann, wieso sollte sie dann nicht sehen können? Dr. Fiona hält mich ständig auf dem Laufenden. Und in einer von Malalas ersten Botschaften geht es um Sie.«
***
Weit entfernt in Birmingham konnte ich nicht nur sehen, sondern verlangte sogar einen Spiegel. Ich schrieb das Wort »Spiegel« in mein rosarotes Notizheft – ich wollte mein Gesicht und mein Haar sehen. Die Schwestern brachten mir einen kleinen weißen Spiegel, den ich heute noch habe. Bei meinem Anblick erschrak ich. Meine langen Haare, die ich immer stundenlang gestylt hatte, waren ganz kurz geschnitten, und auf der linken Kopfseite hatte ich gar keine mehr. »Mein Haar ist kurz«, schrieb ich in mein Notizbuch. Ich dachte, die Taliban hätten mir die Haare abgeschnitten, doch die Ärzte in Pakistan hatten mir gnadenlos den Kopf rasiert. Mein Gesicht war ganz schief, als hätte es jemand auf einer Seite heruntergezogen. Im linken Augenbereich hatte ich eine Narbe. »Wer hat das getan?«, schrieb ich, wobei die Buchstaben gefährlich hin und her schlingerten. Ich wollte wissen, wer das verursacht hatte. »Was ist mit mir passiert?«
Ich schrieb auch, man solle die Lampen ausschalten, da mir das helle Licht Kopfschmerzen verursachte. Da erzählte Dr. Fiona endlich, was geschehen war. »Du hast etwas sehr Schlimmes erlebt«, sagte sie. »Wurde auf mich geschossen? Wurde auf meinen Vater geschossen?«, fragte ich. Sie berichtete mir, ich sei im Schulbus von einer Kugel getroffen worden. Zwei Freundinnen von mir hätten ebenfalls Verletzungen erlitten. Die Namen der Mädchen konnte ich jedoch nicht mit irgendeiner Erinnerung in Verbindung bringen. Die Ärztin erklärte mir, die Kugel sei seitlich von meinem linken Auge eingedrungen, dort, wo die Narbe sei, und dann etwa 40 Zentimeter unterhalb meiner linken Schulter stecken geblieben. Sie hätte leicht mein Auge zerstören oder mein Gehirn beschädigen können. Es sei ein Wunder, dass ich noch am Leben war.
Ich fühlte nichts, lediglich ein wenig Zufriedenheit: »Sie haben es also endlich getan.« Ich bedauerte nur, dass ich keine Möglichkeit gehabt hatte, mit ihnen zu sprechen, ehe sie auf mich schossen. Jetzt würden sie nie hören, was ich ihnen zu sagen hatte. Ich hegte aber keine bösen Gedanken, wenn ich an den Mann dachte, der auf mich geschossen hatte. Ich wollte keine Rache. Ich wollte einfach nur zurück ins Swat. Ich wollte nach Hause.
Bilder fingen an, in meinem Kopf Gestalt anzunehmen, aber ich wusste immer noch nicht, was Traum war und was Wirklichkeit. Die Geschichte, an die ich mich erinnere, unterscheidet sich ziemlich von dem, was bei dem Anschlag in Wirklichkeit geschah. Ich war in einem anderen Schulbus, zusammen mit meinem Vater und meinen Freundinnen und einem Mädchen namens Gul. Wir waren auf dem Heimweg, als plötzlich zwei schwarzgekleidete Taliban auftauchten. Einer von ihnen hielt mir eine Pistole an den Kopf, und die kleine Kugel, die daraus hervortrat, drang in meinen Körper ein. In diesem Traum erschoss der Mann auch meinen Vater. Dann ist alles dunkel, ich liege auf einer Trage, und um mich herum ist eine Traube von Menschen, darunter viele Männer. Meine Augen suchen meinen Vater. Endlich finde ich ihn und versuche, mit ihm zu sprechen. Aber ich kann nicht. In anderen Träumen bin ich an vielen verschiedenen Orten, auf dem Jinnah-Markt in Islamabad, auf dem Cheena-Basar, und werde dort angeschossen. Ich träumte sogar, die Ärzte seien Taliban. Ständig fragte ich mich, weshalb ich so viel träumte. Weshalb ich meine Schule zwar sah, aber nicht dorthin gehen konnte. Ich fragte meinen Verstand: »Bin ich tot oder lebendig?« Und dann sagte ich mir: »Allah ist bei dir. Eines Tages wirst du aufwachen.«
Als ich wieder öfter bei
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