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Ich bin Malala: Das Mädchen, das die Taliban erschießen ...

Ich bin Malala: Das Mädchen, das die Taliban erschießen ...

Titel: Ich bin Malala: Das Mädchen, das die Taliban erschießen ... Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Malala Yousafzai
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die Menschen sich noch mehr, denn wir bringen jede Naturkatastrophe automatisch mit menschlichem Versagen in Verbindung.
    Die Nacht, in der die Tänzerin Shabana ermordet wurde, war eine bitterkalte Nacht im Dezember 2008 . Sie lebte in Mingora in der Banr Bazaar, jener engen, holprigen Straße mit den Häusern, die Holztüren hatten. Die Banr Bazaar war dafür berühmt, dass hier viele Tänzer und Musiker ihr Zuhause hatten.
    Shabanas Vater erzählte, eine Gruppe Männer habe bei ihnen an die Tür geklopft und seine Tochter gebeten, ihnen vorzutanzen. Sie zog sich zurück, um ihre Tanzgewänder anzulegen. Als sie zurückkam, um für die Männer zu tanzen, zogen die ihre Gewehre heraus und sagten, sie würden ihr die Kehle durchschneiden.
    Es war während der allabendlichen Ausgangssperre nach 21  Uhr, und die Leute hörten sie schreien: »Ich verspreche, dass ich das nie wieder tun werde! Ich verspreche, nie mehr zu singen und zu tanzen. Verschont mich um Gottes willen! Ich bin eine Frau, eine Muslimin. Tötet mich nicht!«
    Dann hallten Schüsse durch die Nacht, und ihr von Kugeln durchsiebter Leichnam wurde zum Green Chowk gezerrt. An der Verkehrskreuzung waren inzwischen so viele Leichen abgelegt worden, dass die Leute anfingen, den Platz »Blutplatz« zu nennen.
    Wir erfuhren am nächsten Morgen von Shabanas Tod. Auf Mullah FM sagte Fazlullah, sie hätte den Tod ihres unmoralischen Charakters wegen verdient, und nach und nach würde man alle Mädchen, die man in der Banr Bazaar beim Tanzen erwische, töten. Früher waren wir stolz auf das Können der Musiker und Tänzer im Swat, jetzt aber flohen die meisten Künstler nach Lahore oder Dubai. Musiker setzten Anzeigen in die Zeitung, in denen sie verkündeten, sie hätten aufgehört, Musik zu machen, und würden von nun an ein frommes Leben führen. Damit wollten sie die Taliban besänftigen.
    Die Menschen redeten über Shabanas schlechten Charakter, verachteten sie und sahen auf sie herab. Dennoch wollten unsere Männer sie tanzen sehen.
    So ist unsere Gesellschaft: Die Tochter eines Khan kann nie den Sohn eines Barbiers heiraten, und die Tochter eines Barbiers nicht den Sohn eines Khan. Wir Paschtunen lieben zwar Schuhe, aber den Schuster lieben wir nicht; wir lieben unsere Schals und Decken, aber wir haben keinen Respekt vor den Webern. Die Handwerker leisteten einen wertvollen Beitrag für unsere Gesellschaft, erhielten aber keine Anerkennung dafür. Und das ist der Grund, weshalb sich viele von ihnen den Taliban anschlossen: Um einen gewissen Status und Macht zu erhalten.
    Genauso sahen die Menschen Shabana gern zu, doch sie respektierten sie nicht.
    Also sagten die Leute nichts, als Shabana umgebracht wurde. Einige befürworteten den Mord sogar, vielleicht aus Angst vor den Taliban oder weil sie sogar deren Anhänger waren. »Shabana war keine Muslimin«, hieß es dann. »Sie war schlecht, und es ist richtig, dass sie getötet wurde.« Dass sie ihr selbst voller Freude beim Tanzen und Singen zugeschaut hatten, spielte auf einmal keine Rolle mehr.
    Ich kann nicht einmal sagen, dass dies der schlimmste Tag war. Zu der Zeit kam uns jeder Tag wie der schlimmste vor, jeder einzelne Augenblick war der schlimmste. Schlechte Nachrichten vernahm man ständig: Das Haus von einer bekannten Person wurde bombardiert, eine Schule in die Luft gesprengt, öffentliche Auspeitschungen fanden statt. Ereignisse dieser Art nahmen kein Ende und waren erdrückend.
    Einige Wochen nach Shabanas Ermordung wurde in Matta ein Lehrer umgebracht. Er hatte sich geweigert, seinen Shalwar Kameez über dem Fußknöchel zu tragen, so wie es bei den Taliban üblich war. Er sagte ihnen, nirgendwo im Koran sei dies gefordert. Sie erhängten ihn und erschossen danach seinen Vater.
    Ich konnte nicht begreifen, was die Taliban damit bezweckten. »Sie missbrauchen unsere Religion«, sagte ich in Interviews. »Würden Sie den Islam akzeptieren, wenn ich Ihnen eine Pistole an den Kopf halte und sage, der Islam sei die einzig wahre Religion? Wenn die Taliban möchten, dass alle Menschen auf der Welt Muslime sind, wieso gehen sie dann nicht mit gutem Vorbild voran und sind selbst keine schlechten Muslime?«
    Regelmäßig kehrte mein Vater tief erschüttert nach Hause zurück, weil er so schreckliche Dinge mit angesehen oder berichtet bekommen hatte. Einmal waren es getötete Polizisten, deren vom Körper abgetrennte Köpfe im Triumphzug durch die Stadt getragen wurden. Von Ayesha hatte ich ja schon von

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