Ich bin Malala: Das Mädchen, das die Taliban erschießen ...
einer ähnlich grausamen Geschichte gehört. Selbst diejenigen, die Fazlullah am Anfang noch verteidigt hatten, weil sie seine Männer für die Bannerträger des Islam hielten, und ihm Geld gaben, fingen an, sich gegen ihn zu wenden.
Mein Vater erzählte mir von einer Frau, die wie viele andere den Taliban großzügig gespendet hatte, während ihr Mann im Ausland arbeitete. Als er bei seiner Rückkehr herausfand, dass sie ihr Gold verschenkt hatte, war er außer sich. Als es dann eines Nachts in ihrem Dorf eine kleine Explosion gab, fing die Frau an zu weinen. »Heul nicht«, sagte ihr Mann. »Das ist das Geräusch deiner Ohrringe und Nasenstecker. Jetzt lausche dem Klang deiner Broschen und Armreife.«
Und doch gab es noch immer kaum Menschen, die ihre Stimme gegen das Wüten der Taliban erhoben. Meines Vaters alter Rivale in der Bildungspolitik, Ihsan-ul Haq Haqqani, war mittlerweile Journalist in Islamabad. Er organisierte eine Konferenz über die Situation im Swat-Tal. Keiner der Rechtsanwälte und Akademiker, die er eingeladen hatte, erschien. Nur mein Vater und einige Journalisten folgten der Einladung.
Es machte den Eindruck, als seien die Menschen zu dem Schluss gelangt, die Taliban wären gekommen, um zu bleiben, und es sei besser, sich mit ihnen zu arrangieren. »Für die Taliban zu sein ist eine hundertprozentige Lebensversicherung«, hieß es. Deshalb drängten die Leute ihre jungen Männer, sich ihnen anzuschließen. Die Taliban tauchten zu Hause auf, verlangten Geld zum Kauf neuer Kalaschnikows oder baten mit Nachdruck darum, ihnen die Söhne zu überlassen.
Viele Reiche flohen. Den Armen blieb nichts anderes übrig, als zu bleiben und so gut wie möglich zu überleben. Waren die Männer fort, weil sie etwa am Golf arbeiten, waren die Familien ohne ihr Oberhaupt, und das machte die Söhne zur leichten Beute.
Die Gefahr kam immer näher. Eines Tages erhielt Ahmad Shah eine Drohung von Unbekannten. Darin hieß es, er würde abgeschlachtet werden. Also verließ er für einige Zeit die Stadt und ging nach Islamabad. Dort versuchte er, die öffentliche Aufmerksamkeit auf das zu lenken, was in unserem Tal geschah.
Eine der schlimmsten Begleiterscheinungen jener Phase war, dass wir anfingen, einander zu misstrauen. Sogar auf meinen Vater zeigte man mit dem Finger: »Unsere Leute werden umgebracht, nur dieser Ziauddin ist noch am Leben, obwohl er laut seine Meinung sagt. Der ist sicher ein Geheimagent.«
Tatsächlich hatte auch er längst Drohungen erhalten, obwohl er seiner Familie nichts davon sagte. Er hatte in Peshawar auf einer Pressekonferenz das Eingreifen der Armee gefordert; die Führer der Taliban sollten endlich festgesetzt werden. Danach hatte man ihm erzählt, sein Name sei auf Mullah FM genannt worden, und Mullah Shah Dauran habe ihm öffentlich gedroht.
Mein Vater kümmerte sich einfach nicht darum. Aber ich machte mir Sorgen. Er äußerte offen seine Meinung, engagierte sich in vielen Gruppierungen und Komitees und war oft erst um Mitternacht wieder zu Hause. Immer häufiger übernachtete er anderswo, um uns zu schützen, falls die Taliban ihn holen sollten. Der Gedanke, vor unseren Augen getötet zu werden, war für ihn unerträglich. Ich konnte erst schlafen, wenn er wieder zu Hause war und ich das Tor verriegeln konnte. Wenn er bei uns war, stellte meine Mutter eine Leiter auf, die vom Schlafzimmerfenster hinunter in den Hof führte, damit er fliehen konnte, falls plötzlich Gefahr drohte. Er fand das zum Lachen: »Unser Eichhörnchen Atal würde das vielleicht schaffen. Ich nicht!«
Meine Mutter zermarterte sich den Kopf, was wir tun könnten, falls die Taliban kämen. Sie wollte mit einem Messer unter dem Kopfkissen schlafen. Ich sagte, ich könne mich ins Klo schleichen und von dort aus die Polizei anrufen. Meine Brüder und ich planten, einen Tunnel unter der Erde zu graben. Wieder einmal betete ich um einen Zauberstab, der die Taliban verschwinden lassen würde.
Eines Tages sah ich meinen kleinen Bruder Atal wie wild in unserem Garten graben.
»Was tust du da?«, fragte ich ihn.
»Ich schaufle ein Grab«, antwortete er.
Unsere Zeitungen waren voll von Mord und Totschlag, und es war nur natürlich, dass Atal Särge und Gräber im Kopf hatte. Die Kinder spielten nicht mehr Verstecken oder »Räuber und Gendarm«, sondern »Armee gegen Taliban«. Aus den Zweigen der Bäume bauten sie ihre Raketen, und Stöcke waren ihre Kalaschnikows. Das waren ihre Terrorspiele.
Es gab
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