Ich bin Malala: Das Mädchen, das die Taliban erschießen ...
es unter dem Kopfschal sowieso ständig verstrubbelt wurde. Außerdem war es dann einfacher, es sauber zu halten. Aber schließlich überzeugte ich sie: Ich durfte mir die Haare bis auf die Schultern wachsen lassen. Anders als Moniba, die ganz glattes Haar hat, fällt meines in schönen Wellen. Ich flocht mir gern Zöpfe oder legte es mir in hübsche Locken. »Was treibst du da drin eigentlich, Pisho?«, rief meine Mutter dann. »Unsere Gäste müssen ins Bad, jeder wartet hier, dass du endlich fertig bist.«
Die schlimmste Zeit war der Ramadan 2008 . Während des Fastenmonats dürfen weder Nahrung noch Flüssigkeit über die Lippen des Gläubigen kommen, solange noch Tageslicht herrscht. Die Taliban hatten das Kraftwerk bombardiert, so dass wir keinen Strom hatten. Wenige Tage später sprengten sie die Gasleitungen, so dass auch das Gas ausblieb. Der Preis für die Gasflaschen, die wir auf dem Basar kauften, damit meine Mutter wie in den früheren Tagen im Dorf kochen konnte, verdoppelte sich. Aber sie beklagte sich nicht. Das Essen musste gemacht werden, also machte sie es. Sie sorgte sich eher um andere, denen es noch schlechter ging als uns.
Es gab kaum noch sauberes Wasser, und immer mehr Menschen starben an Cholera. Das Swat Hospital wurde mit dem Ansturm nicht mehr fertig und musste die Patienten in Zelten vor dem Krankenhaus unterbringen.
Wir hatten Glück, denn mein Vater hatte einen Generator in der Schule installieren lassen. Frisches Wasser bekamen wir aus einem Bohrloch in der Nähe, wo alle Kinder in der Nachbarschaft zum Wasserholen hingingen. Jeden Tag standen die Menschen in langen Schlangen an, um ihre Krüge, Flaschen und Dosen zu füllen. Einem der Nachbarn gefiel das überhaupt nicht. »Was macht ihr da?«, schimpfte er. »Wenn die Taliban herausfinden, was ihr da tut, dann werden sie ihre Sprengkörper auch auf uns werfen.«
Mein Vater antwortete: »Dann werden die Menschen entweder vor Durst sterben oder bei den Bombenanschlägen.«
Die Tage, an denen wir Ausflüge und Picknicks gemacht hatten, schienen mehr und mehr in weiter Ferne zu liegen. Niemand traute sich nach Sonnenuntergang noch aus dem Haus. Die Terroristen sprengten sogar einen Skilift sowie ein großes Hotel in Malam Jabba in die Luft. Dies war das Ende des Tourismus im Swat. Das Ferienparadies wurde zur Hölle, in die kein Mensch sich mehr hineinwagte.
Ende 2008 verkündete Fazlullahs Stellvertreter Maulana Shah Dauran, dass die Mädchenschulen nun geschlossen würden. Ab dem 15 . Januar sei es Mädchen nicht mehr erlaubt, zur Schule zu gehen. Zuerst dachte ich, das sei nur ein Scherz. »Wie können sie uns daran hindern, zur Schule zu gehen?«, fragte ich meine Freundinnen. »Das Recht haben sie doch gar nicht. Sie sagen, dass sie den Berg hinwegfegen werden, doch sie haben nicht mal die Straße unter Kontrolle.« Und: »Wenn sie echte Muslime sind, sollten sie wissen, dass Gott von uns will, dass wir einander helfen.«
Die anderen Mädchen dachten nicht so. »Wer soll sie aufhalten? Sie haben schon Hunderte von Schulen in die Luft gesprengt, und niemand hat etwas dagegen getan.«
Mein Vater meinte, man würde im Swat weiterhin Kinder unterrichten, solange es Räume und Lehrer gäbe, aber eben auch Schüler. Er und meine Mutter legten mir nie nahe, ich solle mit der Schule aufhören. Nicht ein einziges Mal.
Obwohl wir Mädchen die Schule liebten, war uns nicht wirklich bewusst gewesen, wie wichtig Bildung war – bis die Taliban versuchten, uns diese zu nehmen. Zur Schule zu gehen, zu lesen, die Hausaufgaben zu machen, das war doch nicht irgendein eitler Zeitvertreib. Es war unsere Zukunft.
Im Winter schneite es, doch wir hatten keinen Spaß mehr an den Schneemännern. Im Winter verschwanden die Taliban gewöhnlich in die Berge, doch sie würden wiederkommen. Was aber auf uns zukam, wussten wir nicht. Wir glaubten, die Schule würde einfach wieder anfangen. Wir dachten, die Taliban vermochten uns unsere Stifte und Bücher zu nehmen, aber nicht unseren Geist. Am Denken würden sie uns nicht hindern können.
12
Der blutige Platz
D ie Leichen wurden nachts auf den Platz Green Chowk geschleppt, damit alle sie am nächsten Morgen auf dem Weg zur Arbeit sahen. Normalerweise wurde ihnen ein Zettel angesteckt, auf dem Sachen standen wie: »Das passiert mit Agenten der Armee.« Oder: »Vor elf Uhr morgens darf dieser Leichnam nicht bewegt werden.«
In manchen Nächten kamen zu den Morden noch die Erdbeben. Dann fürchteten
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