Ich bin Malala: Das Mädchen, das die Taliban erschießen ...
versuchte ich mich abzulenken. In dem Werk geht es um große Fragen, um die Urkräfte des Universums und ob die Zeit rückwärtslaufen kann. Ich war erst elf und wünschte schon, sie wäre dazu in der Lage.
Wir Paschtunen wissen, dass der Stein der Rache nie verwittert. Wenn du etwas Falsches tust, musst du dafür bezahlen. »Wann aber würde das sein?«, fragten wir uns ständig.
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Das Tagebuch von Gul Makai
A n einem dieser finsteren Tage bekam mein Vater einen Anruf von seinem Freund Hai Kakar, einem BBC -Radiokorrespondenten, der in Peshawar arbeitete. Er war auf der Suche nach einer Lehrerin oder Schülerin, die bereit war, Tagebuch über ihr Leben unter den Taliban zu führen. Er wollte die menschliche Seite der Katastrophe sichtbar machen, unter der wir im Swat zu leiden hatten. Zuerst hatte sich Madam Maryams jüngere Schwester Ayesha dazu bereit erklärt, doch als ihr Vater davon erfuhr, verwehrte er seine Zustimmung, weil es ihm zu gefährlich war.
Als ich meinen Vater darüber reden hörte, fragte ich: »Warum nicht ich?« Ich wollte, dass die Menschen erfuhren, was passierte. Wir Mädchen haben ein Recht auf Bildung. Genauso wie wir das Recht haben zu singen. Der Koran hat uns dieses Recht gegeben. Und im Koran steht auch geschrieben, dass wir uns mit dem Studium Mühe geben und lernen sollen, die Geheimnisse unserer Welt zu enträtseln.
Ich hatte noch nie ein Tagebuch geführt und wusste nicht, wie ich es anfangen sollte. Zwar hatten wir damals schon einen Computer, doch es gab häufig Stromausfälle und nur selten einen Internetzugang. Es wäre schwierig geworden, meine Einträge zu verschicken. Also rief Hai Kakar mich abends vom Mobiltelefon seiner Frau aus auf dem Handy meiner Mutter an. Er meinte, das sei notwendig, um uns zu schützen, denn sein Telefon würde der Geheimdienst abhören. Er stellte mir Fragen zum Tag und ließ sich von mir kleine Anekdoten erzählen, sogar meine Träume. Wir telefonierten etwa eine halbe Stunde miteinander, manchmal auch 45 Minuten, und führten das Gespräch, obwohl wir beide Paschtunen sind, auf Urdu. Der Grund: Meine »Tagebucheintragungen« sollten als Blog in dieser Sprache veröffentlicht werden. Da alles so authentisch wie möglich klingen sollte, schrieb Hai Kakar meine Worte auf, und einmal wöchentlich erschienen sie auf der Website von BBC Urdu.
Er erzählte mir von Anne Frank, dem 13 Jahre alten jüdischen Mädchen, das versucht hatte, mit seiner Familie in Amsterdam vor den Nazis Zuflucht zu finden. Er erzählte mir von ihrem Tagebuch, in dem sie über ihr Leben in einem engen Versteck in einem Hinterhaus schrieb, über ihre Tage und auch über ihre Gefühle. Es war sehr traurig, denn die Familie wurde verraten und verhaftet, und Anne starb mit nur 15 Jahren in einem Konzentrationslager. Das Tagebuch wurde später gefunden und veröffentlicht und ist ein sehr bewegendes Dokument.
Hai Kakar sagte, es könne gefährlich sein, meinen echten Namen zu benutzen, und verlieh mir deshalb das Pseudonym »Gul Makai«. Das bedeutet »Kornblume« und ist außerdem der Name der Heldin eines paschtunischen Märchens. Bei diesem Märchen handelt es sich um eine Art
Romeo und Julia
-Geschichte, in der die Liebenden, Gul Makai und Musa Khan, einander in der Schule begegnen. Und weil sie verschiedenen Stämmen angehören, entfacht ihre Liebe einen Krieg. Doch anders als bei Shakespeare endet diese Geschichte nicht als Tragödie. Gul Makai beweist den Ältesten mit Hilfe des Korans, dass Krieg schlecht ist, und schließlich stellen die beiden Stämme die Kämpfe ein und gestatten den Liebenden, wieder ein Paar zu sein.
Mein erster Tagebucheintrag erschien am 3 . Januar 2003 . »Ich habe Angst«, lautete die Blog-Überschrift. Die folgenden zwei Sätze lauteten: »Letzte Nacht hatte ich einen furchtbaren Traum, einen Traum, in dem Militärhubschrauber und Taliban vorkamen. Solche Träume habe ich seit Beginn der Militäroffensive im Swat.« Weiter hieß es, dass ich seit dem Taliban-Erlass Angst hätte, zur Schule zu gehen, und dabei ständig über die Schulter gucken würde.
Außerdem erzählte ich in dem Blog von einem Vorfall, der sich eines Tages auf dem Heimweg von der Schule ereignet hatte. Ein Mann befand sich unmittelbar hinter mir, er sagte: »Ich bringe dich um.« Daraufhin ging ich schneller, und erst nach einer Weile drehte ich mich um, um nachzuschauen, ob er mich noch verfolgte. Zu meiner großen Erleichterung sah ich, dass er mit seinem Handy
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