Ich bin Malala: Das Mädchen, das die Taliban erschießen ...
hatten, dem Unbekannten entgegen. Wir wussten nicht, ob wir all das je wiedersehen würden. Uns allen standen die Bilder vor Augen, wie die Armee bei ihrer Offensive gegen die Taliban in Bajaur alles dem Erdboden gleichgemacht hatte. Wir glaubten, dass alles, was uns bekannt und vertraut war, nun zerstört werden würde.
Die Straßen waren übervoll. Ich hatte nie so viele Menschen unterwegs gesehen. Überall wimmelte es nur so von Autos, Rikschas, Eselswagen und Lastern, die mit Leuten und ihren Habseligkeiten beladen waren. Es fuhren sogar Motorräder an uns vorbei, auf denen ganze Familien saßen, was fast akrobatisch wirkte. Tausende von Menschen waren auf den Straßen – mit nichts außer den Kleidern, die sie am Leib trugen. Es schien, als sei das ganze Tal auf der Flucht. Es heißt, die Paschtunen stammen von einem der verlorenen Stämme Israels ab, und mein Vater bemerkte dann später auch: »Man hätte meinen können, dass wir die Israeliten sind, die aus Ägypten ausziehen, nur mit dem Unterschied, dass wir keinen Moses haben, der uns führt.« Die wenigsten wussten, wohin sie gehen sollten, sie wussten nur, dass sie wegmussten. Dies war der größte Exodus in der Geschichte der Paschtunen.
Es gab zwar viele Wege aus der Stadt, doch die Taliban hatten mehrere große Apfelbäume gefällt und damit mehrere Straßen blockiert. Also waren alle auf derselben Straße unterwegs. Vor uns tat sich ein Meer von Menschen auf. Taliban mit Gewehren patrouillierten und beobachteten uns von den Gebäudedächern herab. Einige regelten sogar den Verkehr, allerdings nicht mit Trillerpfeifen, sondern mit Gewehren. Und wir lästerten: »Das sind jetzt die Verkehrs-Taliban.« Nur um uns ein bisschen aufzuheitern. In regelmäßigen Abständen passierten wir die Kontrollpunkte des Militärs und die der Taliban – hübsch nebeneinander. Einmal mehr schienen die Soldaten von der Präsenz der Taliban nichts zu bemerken. »Vielleicht sind die Soldaten halb blind«, witzelten wir, »und können sie deswegen nicht sehen.«
Es war eine lange, eine langsame Fahrt. Schweißdurchtränkt klebten wir aneinander. Normalerweise waren Autofahrten für uns Kinder ein Abenteuer, da wir nur selten in einem Wagen saßen. Doch das hier war anders. Alle waren niedergeschlagen.
Im kleinen Bus von Dr. Afzal erstattete mein Vater den Medien per Handy laufend Bericht. Er beschrieb live den Exodus aus dem Tal. Meine Mutter sagte ihm ständig, er solle doch leise sprechen, damit die Taliban auf der Straße ihn nicht hören. Mein Vater hat eine ziemlich laute Stimme, und normalerweise spöttelt meine Mutter, er brauche ohnehin kein Telefon, er müsse nur rufen.
Schließlich überquerten wir den Malakand-Pass, und wenig später lag das Swat hinter uns. Am späten Nachmittag erreichten wir Mardan, eine ebenso heiße wie geschäftige Stadt.
Mein Vater versicherte uns in einem fort: »In ein paar Tagen können wir wieder zurückkehren. Es kommt bestimmt alles in Ordnung.« Doch er wusste, dass das nicht stimmte.
In Mardan gab es bereits große Flüchtlingslager mit den weißen Zelten der UN -Flüchtlingshilfe, in denen auch die afghanischen Flüchtlinge in Peshawar untergebracht waren. Wir wollten jedoch nicht in einem solchen Lager untergebracht werden, das wäre die schlechteste Lösung von allen gewesen. Fast zwei Millionen Menschen waren auf der Flucht aus dem Swat, und es war unmöglich, zwei Millionen Menschen in diesen Camps unterzubringen. Selbst wenn man uns ein Zelt zugewiesen hätte, wäre es drinnen viel zu heiß gewesen, und man hörte allenthalben, dass in den Lagern schon Krankheiten wie die Cholera umgingen. Mein Vater sagte, es existieren Gerüchte, dass sich auch Taliban in den Lagern versteckten und die Frauen belästigten.
Viele Menschen allerdings fanden bei Verwandten oder Freunden Aufnahme. Erstaunlicherweise fanden drei Viertel aller IDP s in Mardan und dem nahe gelegenen Swabi für länger oder kürzer eine neue Bleibe, ein weiteres Beispiel für die Gastfreundschaft der Paschtunen. Die Einwohner öffneten die Türen ihrer Häuser, Schulen und Moscheen für die Flüchtlinge. Wir waren überzeugt, dass viel mehr Menschen dem Hunger oder Krankheiten zum Opfer gefallen wären, als es sowieso schon geschah, hätte die Regierung versucht, sich der Massenflucht anzunehmen.
In unserer Kultur wird von den Frauen erwartet, dass sie sich nicht in Gesellschaft von Männern aufhalten, sofern diese nicht zur Familie gehören, sei
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