Ich bin Malala: Das Mädchen, das die Taliban erschießen ...
eine Pilgerstätte war. Die Menschen hatten ihn aufgesucht, um ihn um seelische Zufriedenheit zu bitten, um Heilung ihrer Krankheiten, auch beteten sie hier um glückliche Vermählungen ihrer Kinder. Aber jetzt war der Schrein verriegelt und verrammelt.
Die Menschen im südlichen Pakistan bekamen große Angst, als die Taliban auf die Hauptstadt vorrückten. Anscheinend hatten sie das Video von der Auspeitschung des siebzehnjährigen Mädchens in der schwarzen Burka gesehen und fragten sich: »Wollen wir das in Pakistan?« Militante Taliban hatten Benazir ermordet, das Marriott Hotel in Islamabad in die Luft gesprengt, Tausende Menschen durch Selbstmordattentate und Enthauptungen getötet, Hunderte Schulen zerstört. Was brauchte es denn noch, damit Militär und Regierung sich gegen sie zur Wehr setzten?
In Washington hatte die Regierung von Präsident Barack Obama gerade verkündet, dass man noch einmal 21000 Soldaten nach Afghanistan schicken würde, um im Krieg gegen die Taliban die Wende zu schaffen. Doch nun schienen die Amerikaner mehr über Pakistan beunruhigt zu sein als über Afghanistan. Nicht wegen Schulmädchen wie mir, sondern weil unser Land mehr als 200 Atomsprengköpfe besitzt. Besorgt fragten sich die Amerikaner, wer die kontrollierte. Sie sprachen darüber, ihre Zahlungen in Milliardenhöhe einzustellen und stattdessen Truppen nach Pakistan zu schicken.
Anfang Mai startete unsere Armee die Operation »Der richtige Weg«. Wieder einmal sollten die Taliban aus dem Swat vertrieben werden. Wir hörten, dass sie Hunderte von Kommandotruppen mit Hubschraubern in die Berge im Norden unseres Landes beförderten. Es kamen auch weitere Truppen nach Mingora. Dieses Mal sollte auch die Stadt geräumt werden. Über Megafone erklärten sie, dass alle Bewohner Mingora verlassen sollten.
Mein Vater war weiterhin der Meinung, dass wir bleiben sollten. Doch das ständige Gewehrfeuer der Armee hielt uns fast jede Nacht wach. Jeder lebte in ständiger Angst. Eines Nachts wurden wir von Schreien geweckt. Wir hatten ein paar niedliche Haustiere bekommen – drei weiße Hühner und einen ebenso weißen Hasen. Ein Freund hatte sie Khushal geschenkt – ich durfte ein Huhn mein Eigen nennen –, und wir ließen die Tiere frei im Haus herumlaufen. Atal war damals fünf Jahre alt und liebte den Hasen von ganzem Herzen, und so durfte er unter dem Bett meiner Eltern schlafen. Aber der Hase ging uns auch auf die Nerven, weil er überall hinpinkelte. Deshalb sperrten wir ihn nachts vor die Tür. Etwa gegen Mitternacht schlich sich eine Katze heran, tötete unseren Hasen und fraß ihn. Wir alle hörten seine Todesschreie. Atal konnte gar nicht mehr aufhören zu weinen. »Wenn es hell ist, werde ich der Katze Manieren beibringen«, sagte er. »Ich bringe sie um.« Das Ganze war für uns wie ein schlechtes Omen.
15
Der Abschied vom Tal
A us dem Tal wegzugehen war härter als alles, was ich je getan hatte. Ich erinnere mich noch an einen Tapa, den meine Großmutter häufig rezitierte: »Kein Paschtune verlässt sein Land aus freiem Willen. Entweder er macht es um der Armut oder um der Liebe willen.« Nun wurden wir aus einem dritten Grund vertrieben, der in den Tapas nicht auftauchte: die Taliban.
Als meine Mutter von den ständigen Gewehrschüssen und der Anspannung genug hatte, rief sie Dr. Afzal an und bat ihn, er möge doch meinen Vater überzeugen, dass wir das Tal verlassen müssten. Er und seine Familie wollten weg, also bot er an, uns mitzunehmen.
Als wir unser Haus verließen, war das für mich, als würde man mir das Herz aus dem Leib reißen. Ich stand auf unserem Dach und schaute zu den Bergen hinüber, zum Ilam, auf dessen Gipfel Schnee lag. Dort hatte Alexander der Große gestanden und seine Hand zum Himmel gestreckt, um den Jupiter zu berühren. Ich betrachtete die Bäume, die gerade anfingen, neues Laub auszutreiben. Den Aprikosenbaum, dessen Früchte dieses Jahr vielleicht ein anderer essen würde. Alles war so still, man hätte eine Nadel fallen hören. Der Fluss rauschte nicht und auch nicht der Wind, selbst das Gezwitscher der Vögel war verstummt.
Am liebsten hätte ich geweint, denn tief in meinem Innersten hatte ich das Gefühl, dass ich mein Zuhause möglicherweise nie wiedersehen würde. Die Dokumentarfilmer hatten mich einmal gefragt, was ich bei der Vorstellung empfinden würde, eines Tages aus dem Swat wegzugehen, um nie mehr zurückzukehren. Damals kam mir diese Frage ziemlich unsinnig
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