Ich bin unschuldig
uns kennenlernten – auf der Hochzeit von Freunden aus dem College, die inzwischen geschieden sind –, trug ich ein Kleid, das ich mir von Clara geborgt hatte. In unserer ersten Wohnung hatten wir nicht mal einen Kleiderschrank. Wir teilten uns eine Kleiderstange von Ikea. Ich war damals nur Rechercheurin, Philip in der Ausbildung zum Buchhalter, aber ich war glücklich. An den Wochenenden lagen wir die meiste Zeit im Bett und aßen Toast. Wir sind nie shoppen gegangen. Wir haben Bücher gelesen. Geredet. Dann bekam Philip einen neuen Job und fing an, Geld zu verdienen. Das Geld wurde zu richtigem Geld und dann zu richtig viel Geld. Und dann passierte etwas, was ich nicht ganz verstehe: Für Philip wurde nicht das Geld zur Falle, zum Laster, zur Droge, sondern das Geldverdienen.
Mit der Fernbedienung, die er sein »neues Spielzeug« nennt, öffnet er jetzt die dichte Reihe Zedernholz-Lamellenläden. Kaum Licht schleicht sich ins Zimmer. Ein neuer schmutzig grauer Morgen. Ich sehe zu, wie er sich auf die Bettkante setzt und ein Paar schlichte dunkelblaue Wildlederslipper schnürt, die er sich bei Prada gekauft hat.
Ich versuche, ein Bild von uns im Alter heraufzubeschwören, doch es gelingt mir nicht.
Den Rest des Samstags versuchen wir uns an einem normalen Familienleben. Ich zumindest. Ich lese sämtliche Zeitungen, doch Informationen oder Ideen lege ich in einem Teil meines Gehirns ab, der mit »später« etikettiert ist. Ich versuche, nicht an die Arbeit zu denken – selbst als mir in der Kulturbeilage der Times auffällt, dass Stan zu Gast bei Top Gear ist. Ich kann meine Aufmerksamkeit an- und abschalten. Mein Gehirn ist wie ein Kuhmagen: Wenn ich mir richtig viel Mühe gebe, kann ich einzelne Bereiche verschließen. Es ist ein Trick aus meiner Kindheit. Am Ende konnte ich alles tun, auch wenn um mich herum das größte Chaos tobte. Selbst jetzt stelle ich mir in Augenblicken großer Spannung die Seiten eines Schulbuchs vor – Nuffields Biologie oder Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts von Longman –, die mir in die Netzhaut gebrannt sind, weil ich mich als Kind mit aller Macht darauf konzentriert habe.
Es ist bedeckt, aber es regnet nicht, und als Millie von der Ballettstunde nach Hause kommt, locken wir Philip von seinen Bildschirmen im Keller weg – diverse Tabellen, die Nachrichten vom Aktienmarkt von Bloomberg – und in seine Regenjacke. Er protestiert halbherzig. »Mils, mein Schätzchen, Samsung stürzt ab – ist dir das egal?« Doch sie schiebt ihren kleinen Arm durch seinen und zieht ihn energisch fort, und aus irgendeinem Grund leistet er heute kaum Widerstand.
Unser Haus steht an einer Ecke, schräg gegenüber einer schmalen Allee, die zum Common führt. Millie, zwischen uns, in ihren Stulpen und gestreiften Gummistiefeln, hüpft herum wie die Parodie einer Achtjährigen. Meine Tochter ist alles, was ich mir erträumt habe. Eine feste Kugel aus Energie und Fröhlichkeit, sie liebt die Schule und das Turnen und Ballett und Hockey und Schwimmen. Sie ist im Minichor und im Theaterklub. Sie liebt ihre Freunde, ihre Familie. Sie ist das platonische Ideal eines Kindes, das Beste von uns beiden. Philips Mutter sagt, sie macht uns alle Ehre, wir hätten »etwas richtig gemacht«, aber sie macht auch Robin alle Ehre, unserem alten Kindermädchen, die beneidenswerte Reserven an Geduld mit liebenswürdiger neuseeländischer Energie verband. Als wir die andere Straßenseite erreichen, stolpert Millie, und während manche Kinder sauer werden und den Bordstein mit mürrischen Blicken traktieren, kichert Millie. »Hoppla«, sagt sie und reißt in gespielter Verwunderung darüber, dass sie beinahe gestürzt wäre, die haselnussbraunen Augen auf. Mir schnürt es das Herz zusammen. Ich packe ihre Hand fester. Und die Klischees stimmen: Für meine Tochter würde ich alles tun, ja, tatsächlich.
Es kommt mir seltsam vor, mich auf den Common zu wagen, irgendwie widernatürlich. Ich hätte nicht gedacht, dass alles wieder hochkommt, doch das tut es. Zuerst kein Zeichen von etwas Ungehörigem, nur wackelige Knirpse, die beim Minifußball über ihre eigenen Füße stolpern, beim Klettergerüst ein Pilateskurs auf Gymnastikmatten, Gruppen von Erwachsenen in Mänteln, die spazieren gehen, Kinder mit nackten Armen auf Fahrrädern.
Wir gehen in Richtung Spielplatz, nicht direkt über die Wiese, sondern den Weg entlang. Ich halte den Blick suchend zu Boden gerichtet, falls mein Armband mir beim Laufen vom
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