Ich bin unschuldig
Handgelenk gerutscht ist. Ich bringe Philip auf den neuesten Stand, wer für ihn angerufen hat. Seine besten Freunde von der Uni – genauer gesagt Rog – haben sich wegen eines Skiwochenendes gemeldet. Ich wiederhole die Daten, und er murmelt leise etwas, was ich später dechiffrieren muss, sonst wird Rog denken, ich hätte die Nachricht nicht weitergeleitet. Ich lege Millie demonstrativ die Hände über die Ohren und erinnere ihn an ihren nachgeholten Geburtstag am nächsten Tag. »Keine Anrufe«, sage ich. Ich habe einen neuen Kuchen gebacken. Seine Eltern wollen früh da sein und uns zum Essen ausführen. Sie fahren nächste Woche weg, auf eine Kreuzfahrt in die Alte Welt. Es hat mir die ganze Woche auf der Seele gelegen, bei ihm nachzufragen, ob das okay ist – manchmal will er sonntags einfach Zeit für sich –, doch jetzt sagt er nur: »Gut«, und zuckt die Achseln, als wäre es ihm vollkommen egal.
Ich habe versucht mich abzulenken, doch wir sind in den Bereich des Common gekommen, wo der Weg eine Kurve macht, am Eingang zum Café, bei den Tennisplätzen und dem Bereich dahinter, wo die Tote lag. Die Stelle. Die Polizei geht kein Risiko ein: Sie hat das ganze Gebiet mit ihrem rot-weißen Plastikband abgesperrt; es verläuft von Baum zu Pfosten zu Geländer, flattert und dreht sich im Wind wie ein groteskes Fähnchen. Die Cafébesitzer haben angesichts eines drohenden Wochenendes ohne Einnahmen auf dieser Seite auf der Wiese einen mobilen Kaffeeverkaufsstand eingerichtet. Es ist dumm, aber ich habe angefangen zu zittern und komisch zu atmen. Mir ist klaustrophobisch zumute – ich muss gegen den Drang angehen, mich durch die Polizeiabsperrung zu kämpfen und dahin zu laufen, wo die Tote lag. Millie hat eine Freundin entdeckt und schwingt das Tor zum Spielplatz auf. Unsicher gehe ich zu Philip, doch er hat einen Anruf entgegengenommen. Er hat den Kopf gesenkt, blickt zu Boden und scharrt mit seinem Prada-Schuh über einen Grasbüschel.
Auf dem Spielplatz sind lauter Leute, die ich kenne, Eltern aus der Schule, Nachbarn, die man hier schon mal sieht. Die meisten bemerken mich und sehen weg. Ich besitze kein besonderes Talent, Freundschaften zu schließen. Ich habe viel zu tun, bin selten zur rechten Zeit am rechten Ort, und wenn doch mal – wenn man zum Beispiel rumsteht, um die Kinder von der Schule abzuholen –, dann bin ich befangen. Aber eigentlich geht es darum, dass Philip nicht scharf darauf ist, neue Leute kennenzulernen. Er hat keine Zeit dafür, sagt er, zu plaudern, um sich kennenzulernen, keine Zeit für Dinnerpartys … Unser Freundeskreis ist groß genug, sagt er. Mag sein, dass er recht hat, doch in Augenblicken wie diesem hat solcher Eigensinn seine Nachteile. Ich wünschte, Millie müsste noch auf der Schaukel angeschoben werden oder bräuchte Hilfe auf der Leiter zur Rutsche, denn dann hätte ich etwas zu tun, etwas, woran ich mich festhalten könnte, doch sie tobt mit einer ganzen Horde Kinder durch die Büsche. Mit acht sind Klettergerüste langweilig. Das kann ich verstehen. Wer braucht schon künstliche Spielgeräte, wenn daneben ein echter Baum steht, an den man sich hängen kann? Ich hocke mich auf eine Bank, stütze die Ellbogen auf die Knie und setze ein möglichst munteres Gesicht auf.
Ich begegne einem Blick und lächle. Ich schnüre einem kleinen Mädchen den losen Schnürsenkel. Ein Kleinkind plumpst neben mir in eine Pfütze, und ich helfe ihm auf und stelle es wieder auf die Füße.
»Gaby!«
Puh. Das ist ja, als würde man beim Schulsport als Allerletzte ausgewählt. Es ist Jude Morris, die Mutter eines Kindes in Millies Klasse. Ich kenne sie nicht besonders gut, aber ich mag sie. Als wir uns vor ein paar Monaten zum ersten Mal begegnet sind, hat sie mir erzählt, sie sei früher Unternehmensanwältin gewesen. »Und jetzt lenke ich meine ganze Energie und meine Bildung in Fingerfarben und Spielverabredungen und den Lehrer-Eltern-Ausschuss. Das bin ich. Wirklich traurig.« Sie ist seit Ewigkeiten die Erste, die mir nicht sofort erzählt, wie gerührt sie war über ein Interview, das ich kürzlich geführt habe – wahrscheinlich deshalb, weil sie so klug war, sich nie eines anzusehen –, oder mir durch betont distanziertes Verhalten das Gefühl gibt, man müsste mich mal in die Schranken weisen.
Sie setzt sich neben mich. »Also«, flüstert sie halb, »was für ein Ding. Hier! Vermutlich hast du davon gehört. Hast du die Polizeiabsperrung gesehen? Ich meine,
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