Ich. Darf. Nicht. Schlafen.
zu brüllen. Er verstand nicht, warum Du das gemacht hast. Zu Hause habe ich versucht, es ihm zu erklären, aber er verstand es nicht. Von da an hatte er richtig Angst vor Dir.
Eine Zeitlang ging das so weiter, wurde aber allmählich schlimmer. Eines Tages rief ich im Krankenhaus an. Ich wollte wissen, wie Du warst, wenn ich nicht da war, wenn Adam nicht da war. »Beschreiben Sie mir, wie sie jetzt gerade ist, in diesem Moment«, sagte ich. Sie sagten, Du seist ruhig. Zufrieden. Du würdest in dem Sessel neben Deinem Bett sitzen. »Was macht sie?«, fragte ich. Sie sagten, Du würdest Dich mit einer anderen Patientin unterhalten, mit der Du Dich angefreundet hättest. Manchmal würdet ihr zusammen Karten spielen.
»Karten spielen?«, sagte ich. Ich konnte es nicht glauben. Sie sagten, Du könnest gut Karten spielen. Sie müssten Dir die Regeln jeden Tag neu erklären, aber dann würdest Du fast immer gewinnen.
»Ist sie glücklich?«, fragte ich.
»Ja«, sagten sie. »Ja. Sie ist immer glücklich.«
»Erinnert sie sich an mich?«, sagte ich. »An Adam?«
»Nur wenn Sie beide hier sind«, sagten sie.
Ich glaube, in dem Moment wusste ich, dass ich Dich eines Tages würde verlassen müssen. Ich habe für Dich eine Einrichtung gesucht, in der Du so lange bleiben kannst, wie es nötig ist. Wo Du glücklich sein kannst. Denn Du wirst glücklich sein, ohne mich, ohne Adam. Du wirst nicht wissen, wer wir sind, und uns daher auch nicht vermissen.
Ich liebe Dich sehr, Chrissy. Das musst Du wissen. Ich liebe Dich über alles. Aber ich muss unserem Sohn ein Leben bieten, ein Leben, das er verdient. Bald wird er alt genug sein, um zu verstehen, was los ist. Ich werde ihn nicht belügen, Chris. Ich werde ihm die Entscheidung erklären, die ich getroffen habe. Ich werde ihm sagen, dass es ein enormer Schock für ihn sein könnte, wenn er Dich besucht, auch wenn er das noch so gern möchte. Vielleicht wird er mich dafür hassen. Mir Vorwürfe machen. Ich hoffe nicht. Aber ich möchte, dass er glücklich wird. Ich möchte auch, dass Du glücklich bist. Auch wenn Du dieses Glück nur ohne mich finden kannst.
Du bist jetzt schon eine ganze Weile im Waring House. Du hast keine Panikattacken mehr. Du hast eine gewisse Alltagsroutine entwickelt. Das ist gut. Und deshalb wird es Zeit, dass ich gehe.
Ich werde Claire diesen Brief geben. Ich werde sie bitten, ihn für mich aufzubewahren und ihn Dir zu geben, wenn es Dir gut genug geht, um ihn zu lesen und zu verstehen. Ich kann ihn nicht selbst verwahren, ich würde bloß ständig darüber nachdenken und der Versuchung nicht widerstehen können, ihn Dir nächste Woche zu geben oder nächsten Monat oder vielleicht auch nächstes Jahr. In jedem Fall zu früh.
Trotz allem gebe ich die Hoffnung nicht auf, dass wir eines Tages wieder zusammen sein können. Wenn Du wieder gesund bist. Wir drei. Als Familie. Ich muss einfach glauben, dass dieser Tag kommen wird. Ich muss einfach, sonst sterbe ich vor Kummer.
Ich gebe Dich nicht auf, Chris. Ich werde Dich niemals aufgeben. Dafür liebe ich Dich zu sehr.
Glaub mir, es ist die richtige Entscheidung, die einzige, die ich treffen kann.
Hasse mich nicht. Ich liebe Dich.
Ben
***
Ich habe ihn jetzt noch einmal gelesen und falte das Papier zusammen. Es fühlt sich frisch an, als wäre der Brief erst gestern geschrieben worden, doch der Umschlag, in den ich ihn stecke, ist weich, an den Ecken ausgefasert, behaftet mit einem süßen Geruch, nach Parfüm. Hat Claire ihn die ganze Zeit in ihrer Handtasche herumgetragen? Oder, was wahrscheinlicher ist, hat sie ihn zu Hause in einer Schublade verwahrt, außer Sicht, aber nie ganz vergessen? Jahrelang hat er auf den richtigen Zeitpunkt gewartet, um gelesen zu werden. Jahre, in denen ich nicht wusste, wer mein Mann war, nicht einmal, wer ich selbst war. Jahre, in denen ich die Kluft zwischen uns niemals hätte überbrücken können, weil ich von der Existenz der Kluft nichts wusste.
Ich schiebe den Umschlag zwischen die Seiten meines Tagebuchs. Ich weine, während ich dies schreibe, aber ich bin nicht unglücklich. Ich verstehe alles. Warum er mich verließ, warum er mich belogen hat.
Denn belogen hat er mich. Er hat mir nichts von meinem Roman erzählt, damit ich nicht am Boden zerstört bin, wenn mir klarwird, dass ich nie wieder einen zweiten schreiben werde. Er hat mir erzählt, meine beste Freundin wäre ausgewandert, um mich vor der Tatsache zu schützen, dass die beiden mich betrogen
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