Ich. Darf. Nicht. Schlafen.
haben. Weil er nicht darauf vertraut hat, dass ich sie beide viel zu sehr liebe, um ihnen nicht zu verzeihen. Er hat mir erzählt, ich wäre von einem Auto angefahren worden, dass es ein Unfall war, damit ich nicht damit fertigwerden muss, dass ich angegriffen wurde, dass ich das Opfer einer Gewalttat bin, die nur durch extremen Hass motiviert gewesen sein kann. Er hat mir erzählt, wir hätten keine Kinder bekommen, nicht nur um mich vor dem Wissen zu schützen, dass mein einziger Sohn tot ist, sondern auch, um mich davor zu bewahren, jeden einzelnen Tag meines Lebens aufs Neue um ihn zu trauern. Und er hat mir nicht erzählt, dass er, nachdem er jahrelang vergeblich versucht hatte, einen Weg zu finden, damit wir als Familie zusammen sein können, keine andere Möglichkeit mehr sah, als unseren Sohn zu nehmen und zu gehen, um wieder glücklich werden zu können.
Als er den Brief schrieb, muss er gedacht haben, unsere Trennung wäre endgültig, doch so ganz hatte er die Hoffnung offenbar nicht aufgegeben, warum hätte er ihn sonst schreiben sollen? Was war ihm durch den Kopf gegangen, als er sich hinsetzte, in seinem Haus, das auch mal mein Haus war? Als er den Stift zur Hand nahm und sich daranmachte, seiner Frau, die es vielleicht niemals würde verstehen können, zu erklären, warum er meinte, keine andere Wahl zu haben, als sie zu verlassen?
Ich bin kein Schriftsteller
, hat er geschrieben, aber dennoch finde ich seine Worte wunderschön, tiefgründig. Sie lesen sich, als würde er von einem anderen Menschen sprechen, und doch weiß ich irgendwo in mir drin, unter der Haut und den Knochen, dem Gewebe und Blut, dass das nicht der Fall ist. Er spricht von und mit mir. Christine Lucas. Seine gebrochene Frau.
Aber unsere Trennung war nicht endgültig. Seine Hoffnung hat sich erfüllt. Irgendwie hat mein Zustand sich gebessert, oder die Trennung von mir fiel ihm noch schwerer, als er gedacht hatte, und er ist zu mir zurückgekommen.
Alles wirkt jetzt verändert. Das Zimmer, in dem ich mich befinde, kommt mir nicht vertrauter vor als heute Morgen, als ich nach dem Aufwachen hier hereinstolperte, auf der Suche nach der Küche, nach einem Schluck Wasser lechzend und von dem verzweifelten Wunsch beseelt, mir auf das, was am Abend vorher wohl passiert war, einen Reim zu machen. Und doch ist es irgendwie nicht mehr durchdrungen von Schmerz und Traurigkeit. Es ist nicht mehr symbolisch für ein Leben, das zu leben ich mir nicht vorstellen kann. Das Ticken der Uhr markiert nicht mehr nur das Verstreichen der Zeit. Es spricht zu mir.
Entspann dich
, sagt es.
Entspann dich und nimm es, wie es kommt.
Ich habe mich geirrt. Ich habe einen Fehler gemacht. Ich habe ihn wieder und wieder und wieder gemacht. Wer weiß, wie oft? Mein Mann ist mein Beschützer, ja, aber auch mein Geliebter. Und jetzt wird mir klar, dass ich ihn liebe. Ich habe ihn immer geliebt, und wenn ich jeden Tag aufs Neue lernen muss, ihn zu lieben, dann sei es so. Genau das werde ich tun.
Ben wird bald nach Hause kommen – ich spüre schon, wie er sich nähert –, und sobald er da ist, werde ich ihm alles erzählen. Ich werde ihm erzählen, dass ich mich mit Claire getroffen habe – und mit Dr. Nash und Dr. Paxton – und dass ich seinen Brief gelesen habe. Ich werde ihm sagen, dass ich verstehe, warum er das damals getan hat, warum er mich verlassen hat, und dass ich ihm verzeihe. Ich werde ihm sagen, dass ich von dem Angriff auf mich weiß, dass ich aber nicht mehr wissen muss, was passiert ist, dass es mich nicht mehr interessiert, wer mir das angetan hat.
Und ich werde ihm sagen, dass ich von Adam weiß. Ich weiß, was mit ihm passiert ist, und obwohl mich bei dem Gedanken, mich dem jeden Tag aufs Neue zu stellen, das kalte Grauen packt, bleibt mir keine andere Wahl. Die Erinnerung an unseren Sohn muss in diesem Haus wach bleiben dürfen, genau wie in meinem Herzen, so schmerzhaft sie auch ist.
Und ich werde ihm von diesem Tagebuch erzählen, ihm sagen, dass ich endlich in der Lage bin, mir selbst eine Geschichte zu geben, ein Leben, und ich werde es ihm zeigen, wenn er fragt, ob er es lesen darf. Und dann kann ich es weiter führen, um meine Geschichte zu erzählen, meine Autobiographie. Um mich aus dem Nichts zu erschaffen.
»Keine Geheimnisse mehr«, werde ich zu meinem Mann sagen. »Kein einziges. Ich liebe dich, Ben, und ich werde dich immer lieben. Wir haben einander unrecht getan. Aber verzeih mir bitte. Es tut mir leid, dass ich
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