Ich. Darf. Nicht. Schlafen.
den Wald gegangen und haben Brombeeren gepflückt. Eimerweise. Und dann hat meine Mutter sie eingekocht und Marmelade daraus gemacht.«
»Gut«, sagte er und nickte. »Ausgezeichnet!« Er schrieb etwas in die Akte vor ihm. »Was ist hiermit?«
Er zeigte mir zwei weitere Fotos. Eines von einer Frau, in der ich nach einem Moment meine Mutter erkannte. Eines von mir. Ich erzählte ihm alles, was mir einfiel. Als ich fertig war, legte er sie weg. »Das ist gut. Sie haben sich an sehr viel mehr aus Ihrer Kindheit erinnert als sonst. Ich denke, das liegt an den Fotos.« Er zögerte. »Beim nächsten Mal würde ich Ihnen gerne noch ein paar zeigen.«
Ich stimmte zu. Ich fragte mich, wie er an diese Fotos gekommen war, wie viel er über mein Leben wusste, das ich selbst nicht wusste.
»Kann ich das behalten?«, fragte ich. »Das Foto von dem alten Haus?«
Er lächelte. »Selbstverständlich!« Er reichte es mir, und ich schob es zwischen die Seiten des Tagebuchs.
Er fuhr mich nach Hause. Er hatte mir schon erklärt, dass Ben nichts von unseren Treffen weiß, aber jetzt sagte er, ich sollte mir sehr genau überlegen, ob ich meinem Mann von dem Tagebuch erzählen wollte, das ich nun führen würde. »Das könnte Sie hemmen«, sagte er. »Sie daran hindern, über gewisse Dinge zu schreiben. Ich halte es für sehr wichtig, dass Sie das Gefühl haben, wirklich alles aufschreiben zu können, was Sie wollen. Außerdem könnte Ben verärgert sein, wenn er erfährt, dass Sie beschlossen haben, es noch einmal mit einer Therapie zu versuchen.« Er stockte. »Vielleicht sollten Sie es verstecken.«
»Aber wie weiß ich dann, dass ich darin schreiben soll?«, fragte ich. Er sagte nichts. Mir kam eine Idee. »Würden Sie mich daran erinnern?«
Er sagte, ja, das würde er. »Aber Sie werden mir verraten müssen, wo Sie es verstecken«, sagte er. Wir hielten vor einem Haus. Er stellte den Motor aus, und erst da wurde mir klar, dass ich in dem Haus wohnte.
»Der Kleiderschrank«, sagte ich. »Ich werde es hinten im Kleiderschrank verstecken.«
»Gute Idee«, sagte er. »Aber Sie müssen noch heute Abend darin schreiben. Ehe Sie einschlafen. Sonst ist es morgen nur ein nichtssagendes, leeres Buch. Sie werden nicht wissen, was es ist.«
Ich sagte, dass ich das tun würde, dass ich verstanden hätte. Ich stieg aus dem Wagen.
»Machen Sie’s gut, Christine«, sagte er.
Jetzt sitze ich im Bett. Warte auf meinen Mann. Ich betrachte das Foto des Hauses, in dem ich aufgewachsen bin. Es sieht so normal aus, so banal. Und so vertraut.
Wie bin ich von dort hierhergekommen?
, denke ich.
Was ist passiert? Was habe ich für eine Geschichte?
Ich höre die Uhr im Wohnzimmer schlagen. Mitternacht. Ben kommt die Treppe herauf. Ich werde das Buch in dem Schuhkarton verstecken, den ich gefunden habe. Ich werde es im Kleiderschrank verstauen, genau wie ich es Dr. Nash gesagt habe. Falls er morgen anruft, werde ich weiterschreiben.
Samstag, 10. November
Ich schreibe das hier am Mittag. Ben ist unten und liest. Er denkt, ich ruhe mich aus, aber das tue ich nicht, obwohl ich müde bin. Ich habe keine Zeit dafür. Ich muss das hier aufschreiben, ehe ich es verliere. Ich muss mein Tagebuch schreiben.
Ich schaue auf die Armbanduhr und sehe nach, wie viel Zeit mir noch bleibt bis zu dem Spaziergang, den Ben vorgeschlagen hat. Noch etwas über eine Stunde.
Ich bin heute Morgen aufgewacht und wusste nicht, wer ich bin. Als ich die Augen aufschlug, erwartete ich, die glatten Kanten eines Nachttischs zu sehen, eine gelbe Lampe. Einen kastenförmigen Kleiderschrank in der Ecke des Raumes und eine Tapete mit schwachem Farnmuster in gedeckten Farben. Ich erwartete, unten meine Mutter zu hören, die Schinken briet, oder meinen Vater im Garten, wie er pfeifend die Hecke schnitt. Ich erwartete, dass das Bett ein Einzelbett wäre, in dem außer mir bloß noch ein Stoffkaninchen mit einem eingerissenen Ohr lag.
Ich irrte mich.
Ich bin im Elternschlafzimmer
, dachte ich zuerst und merkte dann, dass ich nichts wiedererkannte. Das Zimmer war mir völlig fremd. Ich drehte mich auf den Rücken.
Irgendwas stimmt hier nicht
, dachte ich.
Das ist alles ganz furchtbar falsch.
Als ich schließlich nach unten ging, hatte ich die Fotos rings um den Spiegel gesehen, die Zettel gelesen. Ich wusste, dass ich kein Kind mehr war, nicht mal ein Teenager, und ich hatte begriffen, dass der Mann, den ich unten hörte, wie er Frühstück machte und zur Musik aus dem
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